Mit Mann und Ross und Wagen (1941)

von Claus Günther | Als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion überfallen ließ und im Dezember sogar den USA den Krieg erklärte, hielt ich ihn da für größenwahnsinnig? Nein. Und selbst wenn: Zu der Zeit hätte ich, als Zehnjähriger, nie gewagt, das zu irgendjemand zu sagen – nicht einmal mir selbst gegenüber hätte ich es so formuliert wie heute. Doch eines weiß ich: Als ich mir das riesige sowjetische Reich auf der Landkarte ansah und mit Deutschland verglich, bekam ich Angst. Ich hatte sofort ein Bild vor Augen: Napoleons Armee, 1812 geschlagen, flieht aus Russland – „Mit Mann und Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen … “

Propagandistisch war das Ganze hierzulande sehr gut vorbereitet. War nicht die großdeutsche Wehrmacht von Sieg zu Sieg geeilt, war unser Führer nicht einzigartig und wir, sein Volk, ebenso? Und wie schnell drangen wir in Russland vor! Weite Teile der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung begrüßten uns Deutsche als Befreier – „na, und den Rest schaffen wir auch noch. Wär´ ja gelacht!“ So habe ich die Stimmung in Erinnerung.

Die Wochenschau zeigte zig Tausende von Kriegsgefangenen, und ich dachte: Wer soll die alle ernähren, und wo sollen die untergebracht werden? Und noch etwas beschäftigte mich: Die riesigen Gebiete, die unsere Wehrmacht erobert hatte: Wie könnten die von uns besetzt gehalten werden? So viele Soldaten oder auch zivile Verwaltungsleute hatten wir doch gar nicht! Wenn wir aber zahlenmäßig unterlegen sind, können uns Partisanen leicht in den Rücken fallen (was ja auch geschah, teilweise).

Aber noch triumphierte das Heldentum. Hitlers Nimbus überstrahlte alles und nahm auch mich gefangen. Negative Gedanken galten als wehrkraftzersetzend, und so hütete ich meine Zunge. Ebenso wenig sprach ich darüber, was ich von den so genannten „sowjetischen Untermenschen“ hielt. Wenn ich entsprechend ausgewählte Gefangene in der Wochenschau sah – häufig waren es „Mongolen“ mit pokkennarbigen Gesichtern – , beschlich mich zwar manchmal ein mulmiges Gefühl, doch glaubte ich auch, in ihren Gesichtern Angst zu sehen, und manchmal, wenn es Menschen waren, die aussahen, als seien sie geistig zurückgeblieben, dachte ich: ähnlich Behinderte gibt es auch bei uns. Das musste doch auch den Erwachsenen aufgefallen sein!

„Kommunisten“, „Bolschewisten“, „Sowjets“, „Russkis“, der „Iwan“: Ich verstand zu wenig von den Unterschieden, aber mein Vater las Werke von Tolstoi und Dostojewski. Als er ans Landratsamt Soltau versetzt wurde und meine Mutter und ich ihn dort besuchten, waren da auch einige gefangene Russen. Abgemagert, in zerlumpter Kleidung und barfuß, mitten im Winter. Mein Vater zog mich beiseite: „Der Mann da vorne, ganz links, sieh dir den mal richtig an. Das ist ein Lehrer.“

Ich war erschüttert und traurig. Gern hätte ich ihm etwas Freundliches gesagt, aber ich konnte ja kein Russisch. Und wenn doch? Dann hätte ich mich vermutlich nicht getraut. Die kollektive Angst erzeugte kollektives Schweigen.

Autor: Claus Günther

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