Das Sonntagskleid (1943)

von Ingeborg Schreib-Wywiorski | Solange ich unter den Fittichen meiner Mutter lebte, war es absolut selbstverständlich, dass ich sonntags „schön“ angezogen wurde. Das galt auch für Besuche bei den Freundinnen meiner Mutter oder bei den Großeltern und ganz besonders natürlich zu allen hohen Fest– und Feiertagen.

Als ich älter wurde, aber noch zu Hause wohnte, achtete Mutti streng darauf, dass ich „richtig“ angezogen war und anständig frisiert, bevor ich mich auf den Weg ins Theater oder zu einem Treffen mit meinen Freunden machte. Nie erloschen ihre Vorwürfe, dass ich ihre Fürsorge nicht genügend wertschätzte und mich wenigstens einmal entsprechend der schönen Kleider vorsehen sollte.

Zum Beispiel bei unserem ersten Landauslug 1943 von Berlin in die Nähe von Wismar. Zu einem Bauern, der ein entfernter Verwandter von Verwandten war, und den ich vorher noch nie gesehen hatte.

Er hatte uns eingeladen, um dem Bombenhagel in Berlin zu entfliehen. Auf seinen Hof am Rande eines idyllischen Wäldchens. Wie es sich für einen Sonntagsauslug zu einer Einladung gehörte, galt auch hier die mütterliche Kleiderordnung:

Neue, schwarze Lackschühchen, weiße Kniestrümpfe, ein Organzakleid mit Puffärmeln und Rüschen sowie eine farbige Seidenschäıpe schienen meiner Mutter als erster Auftritt ihrer 6-jährigen Tochter angemessen. Im Winter hätte ich dem neuen Onkel in einem gesmokten, dunkelblauen Wollkleid und langen weißen Strümpfen, die an einem Leibchen befestigt wurden, meine Aufwartung machen müssen.

Am Bahnhof in Wismar erwartete mich, meinen ebenso herausgeputzten Bruder und die frisch ondulierte Mama ein zünftig gekleideter Landwirt in Schaftstiefeln, kariertem Hemd und Cordhosen mit einem Einspänner. Unsere erste Kutschfahrt vorbei an gelbbraunen Feldern, kleinen Waldstücken, wie viel schöner als U-Bahnfahren durch Berlin.

„Passt auf, dass ihr Euch nicht gleich die Kleider schmutzig macht!“, mahnte meine Mutter höchst besorgt beim Hochklettern auf den Kutschbock. Und schon war  alle kindliche Unbefangenheit wieder dahin.

Eine Stunde später hielt die Kutsche vor einem am Wald gelegenen Bauernhaus. Vor der Tür ein großer Strohhaufen, auf dem sich fröhlich schnatternd kleine Enten tummelten. Das sah lustig aus, also warum sollte ich da um den Strohhaufen herumlaufen statt mittendurch, um mit den anderen ins Haus zu gelangen. Ich konnte doch erst einmal die kleinen Entchen begrüßen.

Gesagt, getan , aber oh weh, eh die Erwachsenen mich zurückhalten konnten, steckte ich bis zum Hals in einer undefinierbaren Brühe. Der Strohhaufen entpuppte sich als mit Stroh abgedeckte Jauchegrube.

Mit festem Griff , und zum Entsetzen der halb ohmnächtigen Mutter, holte mich der Bauer heraus. Aber ach, mein nagelneuer Lackschuh war in der Jauche stecken geblieben und nicht mehr auffindbar, trotz noch so vielen Stocherns. Da war die nächste Strafpredigt nicht mehr fern.

Ein Festkleid für die Gänse.

Als ob die Jauchegrube nicht Warnung genug für Mama gewesen wäre, doch endlich für landgerechte robuste Kleider zu sorgen, musste ich unter Protest sonntags wieder das Organzakleid anziehen. Inzwischen verbrachten wir den Sommer 1943 in Sternberg wieder bei Verwandten von Verwandten. Aus Furcht vor den Bomben in Berlin. Sozusagen eine Privat-Evakuierung mit Schulpflicht. Aber nicht nach Schlesien wie die meisten Schulklassen.

„Auf keinen Fall“, entschied meine Mutter, „da kommen die Russen zuerst hin, wenn alles zu Ende ist.“ Das erfuhr ich natürlich erst, als alles zu Ende war.

Also ging ich in die 2. Klasse der Dorfschule, lernte mehr über Getreide als alle meine späteren Mitschüler in den höheren städtischen Klassen.

Und ich ging zum Gänsehüten! In Organza, sonntags nachmittags. „Sei schön vorsichtig“, rief die Mutter hinterher, als mich meine neuen Sternberger Schulfreunde zum Gänsehüten auf die Gänsewiese abholten. Das hatte ich als Stadtkind natürlich noch nie gemacht.

In sicherem Abstand zu den gackernden, mit weit ausgestreckten Hals herum jagenden Gänsen wollte ich mich erst einmal ausruhen. Und schon war‘s geschehen, Was ich für eine fremde grüne Wiesengrasrabatte hielt, entpuppte sich als ausgeprägter Haufen Gänsescheiße, in den ich mich mit aller Kraft fallen ließ. Oh meine arme Mutter, als ich mit grüngefärbtem Hinterteil im kostbaren Organza wieder „wohl duftend“ heimkehrte.

Zugegeben, Ich hatte ein etwas schlechtes Gewissen.

Autorin: Ingeborg Schreib-Wywiorski