Vom Leibchen zum Fahrtenmesser (1931-45)

von Claus Günther | Modisch betrachtet, war ich, wie viele meiner Altersgenossen, als Kind eine Katastrophe. Ich will gar nicht von den Stoffwindeln reden, die gab es auch später noch (und in der Kriegs- und Nachkriegszeit teilweise gar nicht). Nein, ich meine diese entsetzlichen Leibchen und die langen Strümpfe in der kälteren Jahreszeit, aus dicklicher, brauner, geriffelter Wolle.

Gehasst habe ich die kurzen Bleyle-Hosen. Deren Ränder scheuerten an den Innenseiten meiner Beine, insbesondere bei nassem Wetter oder wenn ich mich draußen mal seitwärts in die Büsche geschlagen hatte und der Wind von vorn gekommen war.

Höchst ungern trug ich auch die so genannte Teufelsmütze. Der Zipfel vorn in der Mitte gefiel mir überhaupt nicht, und mädchenhaft fand ich sie obendrein.

Einmal aber hat man mich herausgeputzt: Meine Omi kaufte mir einen Matrosenanzug, natürlich mit Mütze, an der zwei schmucke Bänder hingen. Dazu ein kleines braunes Köfferchen. Damit stolzierte ich los: „Marinesoldat auf Urlaub!“ Es war das erste Mal, dass ich eine Uniform trug. Leicht hätte ich mit dieser affigen Bekleidung zum Gespött der anderen Kinder werden können, doch da meine feine Uniform „geschont“ werden musste, habe ich sie wohl nicht oft getragen oder bin schnell herausgewachsen.

Doch dann war da noch der neue Lodenmantel. Einerseits passt die Farbe grün überhaupt nicht zu mir (ich könnte schreien!), andererseits war dieser mein neuer Mantel mindestens zwei, wenn nicht drei Nummern zu groß für mich – er hörte wirklich erst einen Zentimeter über dem Boden auf. „Glauben Sie mir: Da wächst der Junge schnell rein, gnädige Frau!“, wird die Verkäuferin zu meiner Mutter gesagt haben. Natürlich waren auch die Ärmel viel zu lang, doch die wurden einfach umgeklappt. Als ich mit diesem Mantel in die Schule kam, rief ein Mitschüler spöttisch: „He, Paster! Paster!“, und andere äfften das nach. Ich sah wirklich aus wie ein grüner Pastor aus Hintermwalde.

Die Uniform der Hitlerjugend hingegen trug ich anfangs mit Stolz. Das Halstuch mit dem Lederknoten imponierte mir, noch mehr allerdings das Fahrtenmesser. „Blut und Ehre“ stand darauf, und ich bilde mir heute noch ein, auf der anderen Seite sei eine Kerbe gewesen, die wir „Blutrinne“ genannt haben, aber angeblich stimmt das nicht. Zumindest aber war das Fahrtenmesser etwas anderes als der Spruch: „Messer, Schere, Gabel, Licht dürfen kleine Kinder nicht.“ Jetzt waren wir endlich groß!

Als wir dann in der Kinder-Landverschickung die Nachricht von Deutschlands bedingungsloser Kapitulation bekamen, war ich froh, ab sofort keine Uniform mehr tragen zu müssen, nie mehr! Allerdings habe ich mir ernsthaft überlegt, wie ich Leute grüße, wenn ich nicht mehr ‚Heil Hitler‘ sage. ‚Guten Morgen‘, ‚guten Tag‘, ‚guten Abend‘? Das hatte man uns doch gründlich abgewöhnt! Heute denke ich manchmal, wie es sich angehört haben würde, wenn Hitler einen Doppelnamen getragen hätte. ‚Heil Müller-Lüdenscheid‘? Wie lächerlich! Ob wir Deutschen das auch wohl mitgemacht hätten? Wer weiß.

Autor: Claus Günther