Schulzeit in der DDR (1952-66)

von Karl-Heinrich Büchner | Es ist dieser „Weg ins Leben“, den jeder Mensch vom Kind zum Erwachsenen gehen muss. Seit Jahrhunderten hat sich die europäische Gesellschaft zu Schulen und der Schulpflicht durchgerungen. Auch die Alphabetisierung kann als Erscheinung der praktischen Aufklärung verstanden werden, zumal sie auch das Verstehen von schriftlichen Bedienungshinweisen [nicht immer das von Formularen oder „Kleingedrucktem“] ermöglicht.

Inwieweit die erlebte Schule, die Lehrer und der Lehrplan diese gesellschaftliche Aufgabe fördern, ist ein weites Feld. Da hat jeder seine vielfältigen Schulerfahrungen. Bei allen Erfahrungen, den guten wie den schlechten, ist stets zu bedenken, dass diese konkreten Erfahrungen nicht umstandslos verallgemeinert oder gar als strukturelle verstanden werden können.

Was meine eigenen Schulerfahrungen anbelangt, so war ich bei recht häufigem Wohnortwechsel in der DDR bis Mai 1961 und anschließend in der Bundesrepublik bis Herbst 1966 in vielen Schulen. Rückblickend lässt sich Folgendes berichten:

a) In der DDR waren alle Kinder einer Kommune bis zur achten Klasse zusammen. Erst danach kam es zu einer Aufteilung. Das galt selbstverständlich auch für Jungen und Mädchen.

Dass das auch anders geht, erlebte ich ab 1961 in Hildesheim. Da gab es neben „unserem“ Jungengymnasium auch ein Gymnasium für Mädchen, und ich rieb mir über solche Vorsintfluterei der Geschlechtertrennung [divide et impera?] die Augen! In Lüchow/Niedersachsen war es dann wieder wie gewohnt.

b) Dann erlebte ich ab dritter Klasse in Ostsachsen an jedem frühen Montagmorgen einen Fahnenapell.

Das erzeugte bei Kälte, Kühle oder Nieselregen keine Glücksgefühle. Es gehörte eben dazu. Später erlebte ich im Gymnasium in Lüchow/Niedersachsen. einen quäkenden Lautsprecher. Diese tönende Beglückung hieß „Durchsage“. Das gehörte eben auch dazu.

c) Ebenso waren im Schulflur per Wandtafel die Leistungen der einzelnen Klassen im Sammeln von Altpapier, Lumpen und anderen Wertstoffen aufgezeichnet. Einmal fuhren wir sogar als Belohnung der Klasse für eine Woche ca. 30km in ein Heim.

d) Die Schulmöbel waren sicher noch Vorkriegsware und entsprechend „bequem“ und besaßen Tintenfässer, wie Bänke für zwei oder gar drei Menschenkinder eben so sind. Ob das dem Sich anpassen diente oder die Wertschätzung einer Gesellschaft für die Kindererziehung ausdrückte oder der schlichten Not der Nachkriegszeit geschuldet war, weiß ich natürlich nicht.

e) Strukturell anders war in der DDR der später eingeführte „polytechnische Unterricht“. Die dort erlebten Ausbilder waren wie die Lehrer sehr unterschiedlich freundlich und bestrebt, die Tätigkeiten des jeweiligen Betriebes bzw. der LPG zu vermitteln.

f) Das Leben als „Junger Pionier“ in der entsprechenden Jugendorganisation war für mich nichts, was deutlich von der Schule und der jeweiligen Klasse sonderlich getrennt war. Meine Comic-Zeichnungen vom Leben in einer technisch geprägten Zukunft waren am Klassenbrett [einer Art Wandtafel im Klassenzimmer] zu „bewundern“.

g) Zweimal habe ich es erlebt, dass ein Lehrer plötzlich und unerwartet und eben unangekündigt aufhörte zu unterrichten: im Bezirk Dresden, weil Lehrer Kirsch „in den Westen gemacht“ hatte. In Hildesheim beendete ein tödlicher Schlaganfall im Unterricht eines Lehrers Beruf! Das war auch plötzlich und unerwartet.

Da gäbe es noch etliches zu erzählen, was für mich wichtig gewesen ist, aber das hat im Nachhinein nicht den Anschein von struktureller Bedeutung für die Schulzeit in der DDR.

… Und doch gibt es Momente im Schulalltag, die mit einem „politischen“ Filter betrachtet, eine Besonderheit ausdrücken.

Keine sonderlich „strukturelle“ Situation, doch für mich eindrucksvoll war Folgendes: Lehrer Lange, ein irgendwie recht alter, hagerer Geschichtslehrer in der kleinen Klasse in der Lungenheilstätte sagte mal recht ruhig und eher nebenbei zu uns jugendlichen Schülern:

„Gemach, gemach. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Ich habe unter dem Kaiser ausgelernt und in der Weimarer Repu-blik begonnen, meinen Beruf auszuüben. Dann kamen die Nazis mit ihrem Tausendjährigen Reich und heute unterrichte ich Geschichte im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden.“ Da wehte ein milder wie freundlicher Hauch durch unser kleines Klassenzimmer auf dem Dachboden des ehemaligen Gutshauses.

Kein protziger, aufgewirbelter Wind vom „Mantel der Geschichte“.
In dieser Schuleinrichtung ereignete sich noch etwas anderes: Während wir jugendlichen Patienten aus Gesundheitsgründen draußen im Park der „Liegekur“ nachgingen, wurde der persönliche „Spind“ geflöht. Nachher waren wir um teuer und unter der Hand erstandene Jerry Cottons, Akims, Mickey Mouse oder Bravos etc. ärmer. So what! Es kam unerwartet, aber eigentlich auch nicht. Eigentlich nur doof.

Brieflich wurde meine Mutter über diese Vorfälle von einem jüngeren, nicht unsympathischen Lehrer unterrichtet, dass mein jugendliches Bewusstsein noch nicht ganz gefestigt sei und dass bei dieser Gelegenheit auch vier Kriminalromane von Agathe Christie bei mir konfisziert worden seien. Kurze Zeit später gab mir meine Mutter schweigend den Brief zu lesen. Wir haben beide gelacht. Die Krimis kamen von meiner Tante aus Hildesheim und meine Mutter hatte sie mir zum Lesen mitgegeben.

Überhaupt, wenn ich so meine Erinnerung über die Schulzeit streifen lasse, fallen mir zu gar etlichen Lehrern gar viele kleine Geschichten ein, nicht immer nur lustige. Insgesamt wird aber deren Bedeutung auf dem Weg ins Leben für das „Schülermaterial“ immer deutlicher. Aber das wäre eine andere Geschichte.

So war die von mir erlebte Schulzeit.

Autor: Karl-Heinrich Büchner