Bahnfahrten zur Zeit der deutschen Teilung (1952-1961)

von Edeltraud Jensen | Ich wohnte 1952 in Halle an der Saale, war zwanzig Jahre alt, und mein Leben als Lehrerin in der DDR war ziemlich trostlos. Meine Freunde lebten in der BRD, und neuen „Freunden“ konnte man nicht trauen. Daher waren es wahre Highlights, wenn ich meine langjährige Freundin in West-Berlin besuchte, die dort an der HfBK studierte, der Hochschule für Bildende Künste.

Vor allem die verrückten Faschingsfeten in allen Räumen der Hochschule! Ganz zu schweigen von der Glitzerwelt des Ku´damms mit dem Über-Angebot an Waren (Schnittblumen im Winter!). Das war eine andere Welt. Umso ernüchternder die jeweilige Heimkehr nach Halle, wo mich notdürftig beleuchtete Straßen und Bürgersteige mit gefährlich tiefen Löchern empfingen.

Wer bei diesen Bahnfahrten nach dem Grund der Reise nach Ostberlin gefragt wurde, musste sofort eine glaubwürdige Antwort parat haben. Gefahr drohte, wenn die Koffer kontrolliert wurden. Enthielten sie Federbetten, kleine Teppiche, edle Bestecke oder Geschirr, so war offenbar eine Flucht nach Westberlin geplant: Die Leute wurden zurückgeschickt. Um nicht in Verdacht zu geraten, fuhr zum Beispiel eine fünfköpfige Familie an verschiedenen Tagen. Wie groß muss der politische Druck, muss die Angst vor Willkür und Verhaftung gewesen sein, um liebevoll eingerichtete Wohnungen zurückzulassen und nur mit einem kleinen Koffer fortzugehen! Für viele war es nach der Flucht 1945 das zweite Mal. Sie hatten sich ihre neue Existenz mühsam aufgebaut. In ihre verlassenen Wohnungen zogen Parteibonzen ein. Ein Freund, der nach dem Volksaufstand 1953 flüchten musste, löste Hin- und Rückfahrt nach Greifswald. Er hatte nur eine Aktentasche bei sich – mit einem Vortrag, den er angeblich in Greifswald halten musste. Bald wurde versuchte Republikflucht mit Gefängnis zwischen 1 und 6, in „schweren Fällen“ zwischen 2 und 10 Jahren bestraft; Kinder kamen ins Heim oder gar zu Adoptiveltern. Es gab allerdings nach dem Mauerbau 1961 auch den Freikauf von Häftlingen – die DDR brauchte Devisen.

Ich bin im April 1954 in den Westen gegangen. Viel später, nach dem Mauerbau, fuhr ich zu Besuchen in den Osten. Bei Bahnfahrten von West- nach Ostdeutschland und zurück waren die Grenz-Kontrollen seitens der DDR jedes Mal beklemmend. Oft dauerten sie länger als eine Stunde. Während dieser Zeit stand der Zug. Allein das Gebell der Schäferhunde! Auf DDR-Seite wurde geprüft, ob nicht jemand – auf welche Weise auch immer – unter dem Zug hing. Ob im Gepäcknetz, unter den Sitzen, hinter der Klappe an der Decke oder auf dem Klo: Überall wurde systematisch nachgesehen. Währenddessen mussten alle Fahrgäste aus dem Abteil auf den Gang, und mancher, nachdem der Personalausweis mit einer „schwarzen Liste“ verglichen worden war, zusätzlich in ein separates Häuschen auf dem Bahnsteig. Dort wurde sehr gründlich durchsucht, und nicht wenige mussten sich völlig entkleiden. Die BRD war „imperialistisches Ausland“ – da konnte man nicht gründlich genug sein!

Die beklemmende Stille wirkte bedrückend; die Angst war spürbar, obgleich man nichts „verbrochen“ hatte. Erst wenn man die schriftliche Einreise-Genehmigung vorweisen konnte, die man Wochen vor Reisebeginn zu beantragen hatte, konnte einem nichts mehr passieren – so hieß es. Aber was heißt das schon bei einem Willkürstaat! Welch eine Erleichterung, sobald der Zug nach der Grenzkontrolle weiterfuhr. Sogleich wurde munter geplaudert – oder auch geflucht.

Einmal, als ich auf einer Fahrt nach Zingst zu meiner Schwester schikaniert wurde, hätte auch ich zum Fluchen allen Grund gehabt. Ich saß allein im Abteil. Bei der Kontrolle fand man bei mir einen „Quelle“-Katalog. Höchst verdächtig! Auf meinen Einwand, der sei doch unpolitisch, wurde ich angeschnauzt und eines Besseren belehrt – und dann ging es los:
Eine Stunde lang wurde mein Koffer kontrolliert, jedes Kleidungsstück ausgeschüttelt, jede Seitentasche umgekrempelt, das Kofferfutter angehoben und meine Geldtasche samt Haarklemmen und Notizzetteln ausgekippt.

Bei meiner Ankunft fragte meine Schwester: „Hast du Geld umgetauscht?“ Ich: „Dazu bin ich nicht gekommen. Hab es grade noch geschafft, alles wieder in den Koffer zu packen.“

Von den wenigen Tagen des Zusammenseins ging dann fast ein ganzer Tag mit Geldumtausch drauf, denn die Behörden für An- und Abmeldung waren meist jwd, also „janz weit draußen“ und voll wartender westdeutscher Besucher. Als mir bei dem Anblick ein „Ach du lieber Gott!“ entfuhr, wurde ich (in Halle) im schlimmsten Sächsisch belehrt: „Dis jips bei uns nich. Dis märken Se sich ma!“

Als meine Schwester aus Halle Rentnerin wurde, durfte sie mich in Hamburg besuchen. Für Rentner in der DDR gab es besondere Fahrkarten für Hin- und Rückfahrt, mit Ostgeld bezahlt.

Bei der Fahrkartenkontrolle nahe Hannover rief der Schaffner seinem Kollegen durch den ganzen Wagen zu: „He! Hier ist schon wieder so eine mit ´ner Schmarotzerkarte!“ Wie meine Schwester sich gefühlt hat, kann man sich wohl vorstellen. „Wir haben doch alle den Krieg verloren“, sagte sie traurig zu mir. „Was kann ich denn dafür, dass ich im ärmeren Teil Deutschlands leben muss?“

Autorin: Edeltraud Jensen

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