Ausland DDR? (1961-1989)

von Carsten Stern | Innerdeutsche Grenze. Gesamtdeutsches Ministerium. „Deutschland, einig Vaterland“. „Deutsche Demokratische Republik“. Gelbe Ortstafeln. Blaue Autobahnschilder. Fernstraße 5, dieselben Nummern. „Bundesrepublik Deutschland“.

Habe ich die DDR als „Ausland“ empfunden? War sie „Inland“?

Ich war Bürger eines Staates aus dem kapitalistischen Ausland. Das war weniger, oder: es war schlechter als ein Bürger sozialistischer Staaten, „Bruderstaaten“, zu sein. Aber war ich deshalb ein Ausländer? Für die Offiziellen „drüben“: formal ja. Es war formalistisch und schwer genug, von Zeit und Aufwand her, in die DDR zu fahren. Aber war sie deshalb „Ausland“?

„Drüben“, „Dein Päckchen nach drüben“, „Mitteldeutschland“, „Zone“, „Sowjetzone“. Alles Sprachmuster dafür, dass jenseits der Grenze auch Deutschland war.

Nein, für mich war die DDR nicht „Ausland“. Sie war auch nicht „Inland“, klar war sie nicht die Bundesrepublik. Und sie war auch nicht „Deutschland“, denn „Deutschland“, das waren „wir“, die Westdeutschen, im Fußball, im Handball, bei Olympia. Und doch war sie Deutschland. Apropos Olympia? Nein, nicht immer waren nur „wir“ Deutschland, da gab es ab und zu auch mal Gesamtdeutsche Olympiamannschaften. Widersprüchlich das alles. Aber eines zog sich immer durch die 40 Jahre Teilung: Es gab Ostdeutsche und es gab Westdeutsche, also zweimal Deutsche. Und das war es eigentlich. Es gab zweimal Deutschland. Einmal „unser“ Deutschland, und einmal das andere.

Wie war es denn, wenn man nach Berlin fuhr? Für uns war Berlin West-Berlin. Für die da drüben war Berlin „Hauptstadt der DDR“, das andere war Westberlin. Für die war Westberlin, was für uns Ost-Berlin war. Schon der Bindestrich war anders! Mit Bedacht. Denn Berlin war eben DDR, für die DDR-Offiziellen. Die andere Stadt fing mit „W“ im Alphabet an, eben Westberlin.

Wenn ich nach Potsdam oder Leipzig fuhr, fuhr ich in einen anderen Staat. Und doch blieb ich in Deutschland. Dies Deutschland war vielleicht fremder als Dänemark oder Frankreich. Es war auch anders als andere deutschsprachige Staaten wie Österreich oder die Schweiz. Es war kommunistisch, es war unübersehbar militärisch geprägt.

Schon die Grenzkontrollen waren ein Überschreiten einer Absperrung. Aber doch blieb ich in Deutschland. Die Sprache blieb deutsch. Die Straßenschilder blieben gelb, gammeliger und oft aus zerfasertem Holz, aber gelb, die Autobahnschilder blieben blau, auch wenn es „Hamburg“ nicht gab, sondern nur den „Transit BRD“. Die Ortsschilder blieben so wie bei uns, und wenn es auf den Straßenschildern Erklärungen gab, gab es sie auf deutsch. Wie denn auch sonst?

Die Speisekarten waren auf deutsch, auch wenn es das Essen, das draufstand, oft nicht gab, und man „Ragufeng“ bekam, oder den Broiler statt der Thüringer. Aber die gab es eben auch. Es gab eben alles oder doch vieles, was es auch bei uns gab. Und waren meine Kusine und mein Vetter „Ausländer“? Wieso denn das? Eben waren wir doch noch zusammen und konnten uns besuchen. Und dann kam 1961. Dadurch wurden wir doch nicht einander zu Ausländern?

Potsdam und Rügen, Hiddensee und Neuruppin, Berlin und Cottbus – das waren doch alles Orte aus der Familie, aus Erzählungen, mein Vater war Berliner, meine Mutter hatte dort 15 Jahre gelebt, sie hatten die Umgebung Berlins an mich weitergegeben, da habe ich nie das Gefühl gehabt, zwischen Elbe und Oder sei nicht Deutschland.

Mit Breslau und Stettin, mit Danzig und Königsberg war das anders, denn dort lebten Polen bzw. Russen und die Städte hatten neue Namen, dort war definitiv Deutsches nur die Vergangenheit. Aber hier in Fehrbellin und Schwerin, in Ribbeck auf Ribbeck im Havelland oder in Sachsen, hier war alles deutsch. Da schüttelt man doch die deutsche Geschichte nicht einfach ab und sagt, das ist jetzt Ausland, Fontane war DDR-Bürger. Ja, wenn die Alliierten „Preußen“ zu einem eigenen Staat gemacht hätten und den „Rheinbund“ ebenso, dann, vielleicht, hätten die Menschen in  jedem Teil ihre eigene Identität neu gefunden und es wäre so etwas wie „Staatsbewusstsein“ und Ausland und Abgrenzung entstanden. So aber waren die Grenzen gegen die Familienbande, gegen die Bewegungen der Menschen, gegen die historische Entwicklung gezogen und die alte Identität blieb erhalten – bei dem, der sie hatte. Und wer keinen Bezug zum Osten hatte, dem war die Frage „Ausland“ sowieso egal und sie interessierte ihn nicht. Und Berlin – West-Berlin – war ein Stachel im Fleische des Ostens – und machte uns im Westen immer klar, wenn wir nach Berlin fahren, fahren wir innerhalb Deutschlands, durch einen anderen Staat, aber nicht durchs Ausland. Ins Ausland fahren wir nach Österreich oder in die Schweiz, aber nicht nach Berlin (West). „Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Insel wieder ´n richt‘jes Festland wird. Ach, wär das schön!“ Es wurde schön. Das Insulaner-Kabarett der 50er hoffte auf Erfüllung.

Nein, Ausland war das andere Deutschland nicht; es war das andere Deutschland, es war etwas Drittes, aber kein Ausland.

Autor: Carsten Stern

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