So gut wie nichts, oder? (1944-47)

von Claus Günther | Nach dem Krieg hatten wir nichts. Gar nichts? Na ja, sagen wir: so gut wie nichts. Am 25. Oktober 1944 war nicht nur unsere Wohnung durch Bomben zerstört worden, sondern das ganze Haus war zusammengekracht. Übrig blieb ein Schutthaufen, darunter lag der Keller. Nichts mehr zu retten, nichts mehr zu machen?

Doch. Aus dem völlig zerstörten Keller wurde ein angekokelter Koffer ausgegraben, der meinem Vater gehörte, und darin fand sich, unversehrt (!), ein Anzugstoff von guter Qualität. Mein Vater hatte ihn als ziviler Verwaltungs-Angestellter während der deutschen Besetzung Polens in Krakau erworben. (Möglicherweise ein Tausch-Geschäft: Vater hat Pässe ausgestellt und jüdischen Einwohnern die Ausreise aus dem so genannten Generalgouvernement ermöglicht. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Viel, viel wichtiger war ja, dass der Knabe Claus, also ich, zur Konfirmation unbedingt eine lange Hose tragen wollte. Wer eine lange Hose trug, hatte die Chance, mit „Sie“ angeredet zu werden. Diesen Anzugstoff schickte mir der Himmel! Irgendjemand hat uns dann einen alten Schneider empfohlen, von dem es hieß, er sei taubstumm. Der kam, breitete den Stoff aus, nahm bei mir Maß, schüttelte den Kopf und sagte mehrfach „Knipp!“ Er wollte kein Geld, nur Essen, und schaufelte Unmengen an Kartoffeln in sich hinein. Woher hatten wir plötzlich reichlich Kartoffeln?

Gespannt warteten wir auf die Anprobe. „Knipp!“, sagte der Schneider. Es wurde ein Desaster. Das Jackett kniff unterm Arm, die Hosenbeine und die Jackenärmel waren mindestens 6 Zentimeter zu kurz. Aber der Anzug hatte eine – freilich schrecklich enge – Weste. Ohne Weste kein Anzug! Das war für ihn als Schneider mit Tradition obligatorisch.

Aus der Traum von der langen Hose. Was nun? „Dann wirst du eben in kurzer Hose konfirmiert“, entschied meine Mutter. „Kommt nicht in Frage. Dann gehe ich nicht zur Konfirmation!“, hielt ich dagegen.

Irgendwo fand sich eine Tennishose, die mein Onkel in jungen Jahren getragen hatte. Passt die? Ja. Aber in einer weißen Hose kannst du nicht konfirmiert werden! Also wurde sie schwarz gefärbt und – o Wunder – war hinterher kein bisschen eingelaufen. Und so wurde ich denn, laut Urkunde, am 14. April 1946 mit 15 Jahren konfirmiert. Ein bisschen gefeiert wurde auch, zu Hause bei Oma. Als Festmahl gab es sogar ein Stück Fleisch für jeden, und ich bekam reichlich Geld geschenkt: 500 Reichsmark!

Nur kaufen konnte man dafür so gut wie nichts. Stattdessen wurde getauscht ohne Ende, der Schwarze Markt blühte. Und plötzlich bekam ich eine zweite lange, beigefarbene Hose. Die saß wie angegossen. Zum ersten Mal trug ich sie an einem sonnigen Sonntagmorgen, als man mich zum Milchmann schickte, um frische Sahne zu holen. Stolz reihte ich mich in die Warteschlange ein, da sprach mich ein Mann an. Ob ich denn nicht wisse, dass das eine Militärhose aus Beständen der Besatzungsmacht sei? „Wer mit so was erwischt wird, wandert ins Gefängnis, mein Junge, glaub mir das.“ Das leuchtete mir ein und machte mir Angst, doch meine Mutter wusste Rat. „Die färbe ich dir schwarz, dann erkennt sie keiner mehr.“ Damit sollte sie Recht behalten, doch leider erkannte man auch die Größe der Hose nicht wieder. Im Gegensatz zur Tennishose war diese so stark eingelaufen, dass sie mir erheblich zu klein war.

Meine kurze Hose hatte also noch nicht ausgedient, doch zum Glück war jetzt Sommer. Im nächsten Winter hingegen würde ich vermutlich barfuß laufen müssen, sollte nicht noch ein Wunder geschehen. Ich hatte ein einziges Paar Stiefel, und das war zerschlissen. Untragbar!

Das Wunder geschah. Auf dem Gelände von ‚Planten un Blomen‘ fand die vermutlich erste Nachkriegsmesse statt. Unsere Klasse fuhr hin. Einer der Aussteller war die schwedische Firma Tretorn. Die präsentierte eine halbautomatische Fertigungsmaschine und zugleich die Preisfrage: „Wie viele Umdrehungen macht diese Maschine während der gesamten Ausstellungszeit?“ Wir riefen unseren besten Mathematiker heran: „Hier, rechne mal aus!“ Das Ergebnis schrieben wir alle ab und warfen die vorgedruckte Karte, mit unserem Absender und unserer Schuhgröße versehen, in einen bereitgestellten Kasten.

Wochen vergingen. Eines Tages brachte der Postbote ein Paket für mich. Es enthielt ein Paar nagelneue Gummistiefel! Der Winter war gerettet. Es wurde der kälteste, den ich je erlebt habe. Aber ich hatte festes Schuhzeug.

Ganz schlimm: unsere Ernährungssituation. Wir aßen häufig ekelhaft süße, erfrorene Kartoffeln, oder Mutter kochte große Mengen wässrige Suppe, „mit ein bisschen was drin“, um dem Magen wenigstens die Illusion zu geben, er sei gesättigt. Wenn es ein Huhn gab – jeder, der auch nur ein winziges Gärtchen besaß, hielt sich damals Hühner – so war das ein Festtag. Doch das Huhn, mit Fischmehl gefüttert, schmeckte nach Fisch. Nicht mal Hühnerfutter gab es zu kaufen! Ich bin des Nachts aufgestanden, weil mir der Magen knurrte, und habe meiner Mutter aus der Speisekammer Maisbrot gestohlen. Mit braunem Zucker bestreut – weißen gab es auch nicht – schmeckte es gar nicht mal schlecht. Kuchen, mit selbstgemachtem Kartoffelmehl gebacken, wurde mit „Aroma“ verfeinert. Mutter besaß ein ganzes Arsenal davon. Als besonders ergiebig, obendrein verführerisch nach Marzipan duftend, erwies sich Bittermandelaroma. Allerdings: Versehentlich zu viel davon – und ein ganzer Kuchen wurde ungenießbar, sogar für mich. Da flossen bittere Tränen!

Meistens aber wurde fertig angerührter Teig zum Abbacken zum Bäcker gebracht. Als meine Mutter dort eines Tages ihren Kuchen abholte, blaffte der Bäcker sie an: „Lassen Sie sich hier nie wieder blicken!“ Sie hatte, in Ermangelung von anderem Fett, den Teig mit Lebertran angerührt. Die Backstube soll gestunken haben wie verdorbener Fisch.

Einmal bin ich mit meiner Mutter von Harburg nach Hamburg gefahren, zum Schwarzen Markt. An der Talstraße und am Hamburger Berg herrschte lebhaftes Treiben. Menschen in Massen! Jeder murmelte halblaut im Vorübergehen, was er anzubieten hatte … Meine Mutter hat dort irgendetwas eingetauscht gegen Kartoffelmarken. Ich sollte an der Ecke auf sie warten, was ich auch tat. Es wurde schon dunkel, als sie angerannt kam. „Komm schnell mit!“, rief sie mir aufgeregt zu. „Der hat mir versehentlich die doppelte Menge an Marken gegeben!“ Wie schön! Damit haben wir die Kartoffeln für den Schneider „Knipp“ erworben.

Autor: Claus Günther