Glücklich in einer überschaubaren Zeit (um 1930)

von Karl-August Scholtz | Schon in den 1920er Jahren waren wir stets auf dem Laufenden im Welt- und Tagesgeschehen – ohne Telefon, Radio, Fernsehen oder Internet. Das Neueste aus Politik, Sport und Gesellschaft lasen wir in Zeitungen, die für Nichtabonnenten von Zeitungsausrufern auf den Straßen angeboten wurden. Bei sehr wichtigen Ereignissen wurden meist kostenlose Sonderausgaben gedruckt, und neueste Kriegsereignisse las ich noch 1939 auf den ausgehängten Papierseiten von Fernschreiber oder Schreibmaschinen hinter den Schaufensterscheiben der Zeitungsredaktionen. Was dort gelesen wurde, sprach sich im Ort blitzschnell herum!

Pünktlichkeit, wie wir sie heute kennen? Kaum möglich, denn die meisten Uhren gewannen oder verloren einige Minuten pro Tag. Deshalb lernte ich damals „Zehn Minuten vor der Zeit sind des Soldaten Pünktlichkeit“. In manchen kleineren Orten richtete man sich noch um 1930 nach der Kirchturmuhr, die – soweit möglich – wiederum nach der Bahnhofsuhr gestellt wurde. Zwar hörten schon mit Rundfunkgeräten versehene Familien mittags: „Achtung, Achtung, mit dem Gongschlag ist es 12 Uhr…. gong!“ Oder es wurde das Zeitzeichen der Deutschen Seewetterdienstes übertragen. Doch, welcher Durchschnittshaushalt besaß schon ein Radio?

Auch ohne Radio hatten wir Musik! In Familien wurde abends oft musiziert, und auf Straßen und Hinterhöfen klangen die Instrumente zahlloser Bettler. Gern gesehen war der Leierkastenmann, oft mit einem richtigen Affen zur Belustigung für uns Kinder. Sogar Tanzbären brachten Mutige mit. Aus den Fenstern flogen eingewickelte Geldstücke zu den Musikanten hinunter. In modernen Haushalten krächzten schon aus dem großen Trichter eines Grammophons Melodien von einer Schallplatte.

Schwierig war es damals für nächtliche Heimkehrer, die ihren Haustürschlüssel vergessen hatten. Weil immer jemand im Hause war, hatten wir beim Ausgehen keinen Schlüssel bei uns. Das genügte. Die durchdringenden nächtlichen Rufe nach der Mutti oder dem Namen eines daheim gebliebenen selig Schlafenden, das Scheppern von gegen Fenster geworfenen Kieselsteinen, klingen mir noch in den Ohren. Aber das gehörte nachts dazu. Ich habe keinen Schrei nach Ruhe in Erinnerung.

Für Bettler, die um Essen baten, wurde eine Stulle Brot oder auch ein Teller vom eigenen warmen Essen hinausgereicht, das sie auf den Stufen des Treppenflures verzehrten. Das war in unserer Familie damals selbstverständlich. Die Bettler erkannten oft durch von ihren Kumpeln angebrachte geheime Kreidezeichen an der Hausmauer, in welcher Wohnung welche Gabe (Geld oder Essen) zu erwarten war.

Bezüglich der Hygiene war die Zeit noch recht rückständig. Soweit das Plumpsklosett nicht mehr in Keller oder Hof zu finden war, kannte ich teilweise schon ein Wasser-Klosett pro Etage für mehrere Familien in Treppenhäusern eingebaut, und – Entschuldigung – zum Säubern diente altes Zeitungspapier trotz der Drukkerschwärze. Ein eigenes WC innerhalb der Wohnung war schon etwas ganz Fortschrittliches. Nur mit der Lüftung gab es noch manches Problem. Das spürte unsere Nase deutlich in der Umgebung!

Zum Kochen und Waschen wurde Wasser in Kannen oder Eimern aufbewahrt, Wasser war kostbar! Für das nächtliche Geschäft gab es das Nachtgeschirr (Töpfchen oder Eimer), das am Tage dann entleert wurde.

Ein Hemd wurde mehrere Tage getragen. Kein Wunder, es gab ja noch keine Waschmaschinen und Trockner. So war „Große Wäsche“ in einem großen mit Kohle beheizten Bottich in der Waschküche mit dem anschließenden Trocknen im Trockenraum eine harte Mehrtagesarbeit. Die damaligen schweren Stoffe trockneten nur sehr langsam, und die Trockenräume waren meistens nicht heizbar. Mit frischer Wäsche gingen wir deshalb sparsam um. Unseren Nachbarn konnten wir des öfteren wahrhaftig riechen! Er uns vielleicht auch?

Ich schlief in einer Dachkammer und wusch mich auch im Winter jeden Morgen aus einer kleinen Schüssel mit kaltem Wasser. An Frosttagen musste erst eine kleine Eisschicht durchbrochen werden, und Zahnärzte mahnten, zum Zähneputzen das Wasser etwas anzuwärmen. Umstandshalber habe ich das jedoch meist unterlassen, denn warmes Wasser hätte ich von der Etage unter mir holen müssen. Wurde ein Arzt benötigt, musste jemand zu ihm gehen und Bescheid sagen.

Heute kann dieses als primitiv angesehen werden. Aber alles war persönlicher, und wir waren glückliche Menschen in einer überschaubaren Zeit!

Autor: Karl-August Scholtz

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