Wie wir die Hamburger S-Bahn lahm legten (1945)

von Lore Bünger | Im August 1945 war die Hamburger S-Bahn zwischen Wedel und Poppenbütttel wieder im Betrieb, obgleich die Stadt noch in Trümmern lag. Mein besorgter Großvater in Farmsen besserte unsere Hungerrationen zum Glück fleißig durch seine Gartenerzeugnisse auf. Daher fuhren meine Mutter und ich im Sommer jeden Sonntag von Altona nach Farmsen, um bei der Gemüseernte zu helfen und für den Winter Erbsen, Bohnen usw. in Dosen zu konservieren.

Zum Transport unserer Schätze benutzten wir einen alten, aber noch gut aussehenden Pappkoffer, der nicht nach Hamstern aussah, denn es gab oft Kontrollen, und Lebensmittel wurden beschlagnahmt. Der Inhalt auf unserer Hinfahrt war der Zeit entsprechend: zwei alte Schürzen, Zeitungspapier zum Einwickeln des Gemüses, ein leerer Eierkarton und das Wertvollste – 15 neue Dosendeckel – die bekam man nur gegen Zigaretten.

Wir fuhren 1.Klasse, denn das war im Vergleich zu unserem Gehalt spottbillig, so ca. 80 Pfennige, dagegen kostete ein halbes Pfund Butter 120 Reichsmark. Unseren Koffer schoben wir auf den Gepäckhalter und genossen die Polsterklasse. Am Hauptbahnhof stiegen wir aus, um mit der Straßenbahn Linie 8 nach Farmsen weiterzufahren. Wir gingen in Richtung Treppe, der Zug fuhr ab, und in dem Moment rief meine Mutter: „Oh Gott, unser Koffer!!“

Wir zum Bahnsteigvorsteher mit der roten Mütze, ein netter junger Mann, der uns tröstete und sofort am nächsten Bahnhof, Berliner Tor, anrief. Aber es dauerte, bis sein Kollege ans Telefon kam, er hatte den Zug gerade abgefertigt. „Ja, dann ist es besser, den Kollegen am Bahnhof Wandsbeker Chaussee zu bitten, den Koffer herauszuholen, es dauert nur etwas länger“, meinte unser netter Beamter.

Wir warteten eine Viertelstunde, nun musste der Wandsbeker gleich anrufen. Aber nein, es dauerte eine halbe Stunde – nichts. Und seltsam, es kam kein Zug mehr aus Richtung Poppenbüttel, zwei Züge aus Altona waren schon vorbei. Dann kam auch keiner mehr aus der Richtung. Unser Beamter rief Wandsbeker Chaussee an, es meldete sich keiner.

Nach über einer Stunde klingelte das Telefon. Unser Freund und Helfer nahm ab, man sah, wie er sich das Lachen verkniff, dann sagte er belustigt: „Na, Ihr Koffer ist da, nun fahren Sie man zur Wandsbeker Chaussee, da werden Sie was zu hören bekommen!!“ Es dauerte noch 15 Minuten, dann kam ein Zug aus Altona und auch einer aus Richtung Poppenbüttel.

Also ab zur Wandsbeker Chaussee. Der dortige Bahnhofsvorsteher war ein kleiner, drahtiger 60-Jähriger. Nachdem er unseren Zug abgefertigt hatte, kam er auf uns zugeschossen: „Oh, Ihr verfluchter Koffer! Als ich ihn aus dem Abteil holen wollte, hat mein Gehilfe das Abfahrtssignal gegeben, was er gar nicht darf, und ich musste bis Friedrichsberg mitfahren. Da alle Signale zwischen Hauptbahnhof und Barmbek von meinem Stellwerk hier bedient werden, mein Gehilfe das aber nicht darf, standen alle Signale auf „ROT“ und keine Bahn konnte weiterfahren. Ich musste mit Ihrem verflixten Koffer weiß Gott zu Fuß auf den Gleisen von Friedrichsberg bis hier zurücklaufen, ich bin fix und fertig. Sie haben den ganzen Zugverkehr durcheinander gebracht!“ Wir machten beide ein betretenes Gesicht. Meine Mutter opferte fünf von den für Opa bestimmten Zigaretten, und wir beeilten uns, mit unserem Koffer das Weite zu suchen.

Oh je, wenn der Alte gewusst hätte, was für ein Schrott in dem Koffer war!

Autorin: Lore Bünger

Schreibe einen Kommentar