„Ordnung muss sein!“ (20er Jahre und später)

von Günter Lucks | Viele technische Einrichtungen, aber auch Gebräuche und Redensarten gibt es heute, von denen wir damals noch nichts wussten. Nun sagen viele der alten Leute, dass die Disziplin und das höfliche Benehmen damals besser waren. Das stimmt auch in gewisser Hinsicht, aber nur weil es eben üblich war.

Jahrzehnte lang unterlag man einer Art Kadavergehorsam, in dem es Regeln gab, wie: „Die Kinder darf man sehen, aber nicht hören!“ Und bei den Frauen hieß es. „Kinder, Küche, Kirche!“

Obrigkeitsdenken gab es also schon lange, und bei den Nazis erst recht. Vorgesetzte mussten ehrerbietig gegrüßt werden, und Kinder mussten den Erwachsenen in den Bahnen Platz machen. Ich, damals 10 Jahre alt, war in die Harburger Berge zum Bickbeeren (Blaubeeren) sammeln gefahren. Ständig gebückt, eine Stunde hin und eine zurück mit der Straßenbahn. Todmüde war ich, musste aber immer stehen.

Alles zu schildern, was früher anders war als heute, besser oder schlechter, würde zu weit führen. Hier soll nur einiges angedeutet werden, und wir Zeitzeugen können ja Antworten darauf geben, wenn sich solche Fragen ergeben. Beispiele:

Hauptstraßen in den Städten verödeten deshalb, weil es seit den sechziger Jahren Supermärkte gab. Die „Tante-Emma-Läden“ (keiner nannte sie damals so!) verschwanden. Wenn es dort mal nicht so voll war, konnten sich die Kunden mit den Verkäufern unterhalten. In Hamburg hieß es „einen Klönschnack halten.“ Der Kunde war König.

Heute steht man lange an den Kassen und die Begrüßung lautet immer „Hallo!“. Dann hat man zu zahlen, man ist nicht König, sondern eine Art „Goldesel!“

Doch zurück zur „guten alten Zeit.“ Jeder zweite trug eine Uniform, die auch, verharmlost, Dienstkleidung genannt wurde. Bahn und Postbeamte, sogar Schaffner in den Bahnen trugen Uniformen mit Sternen und anderen Rangabzeichen. Sie verrichteten keine Arbeit, ihre Tätigkeit wurde „Amtshandlung“ genannt. So mancher Zeitgenosse verhielt sich ihnen gegenüber devot. Immerhin war man, in Uniform, eine Respektsperson.

Sogar das Personal in den Krankenhäusern trug einheitliche Kleidung. Ärzte in weißen Kitteln mit silbernen Knöpfen und Krankenschwestern mit blauer Bluse, weißen Schürzen und Hauben. Kranke hatten oft den Eindruck, „gefälligst“ gesund werden zu müssen! Manche hatten eine „Weiß-kittelangst“.

Im öffentlichen Leben wurde „Sauberkeit“ ganz groß geschrieben. In den Kaufhäusern sah ich Spucknäpfe mit Sägespänen, und in den Bahnen hieß es auf Schildern: „Beim Niesen, Husten, Spucken bediene Dich des Taschentuches“. Wer es nötig hatte, ging in die mit Teer bestrichenen Männerpissoirs. Es wurde an die Wand gepinkelt, aber unten verlief eine Abflussrinne. In den anderen öffentlichen Toiletten, die Bedürfnisanstalten genannt wurden, gab es Kabinen für zahlende Benutzer, aber auch für solche, die wenig Geld hatten. Da hieß es dann: „Für Minderbemittelte.“ Ja, Ordnung muss sein.

Und da wir gerade bei dem Thema sind. Am Hamburger Hauptbahnhof wollte ich so einen gewissen Ort benutzen. Ein würdiger, in weiß gekleideter, Toilettenwärter verlangte 15 Pfennig, riss von einem „Jodler“, so hieß bei uns die Rolle, etwa 20 Blatt ab und geleitete mich in eine Kabine. Nur die sollte ich benutzen. Auch eine Amtshandlung.

Im Bahnverkehr, aber auch bei U-und S-Bahn, fuhren die Menschen in der ersten bis zur vierten Klasse. Natürlich gab es da dann auch Preisunterschiede. Es wurde oft und streng kontrolliert. Im Hauptbahnhof gab es den Wartesaal der ersten und zweiten Klasse mit Restaurantbetrieb. Und einen Saal für die unteren Klassen.

Als ich einmal im Wartesaal der zweiten Klasse eine Limonade bestellte, kam prompt die Kontrolle. Da ich nur die Fahrkarte der 3. Klasse hatte, wurde mir barsch bedeutet, den Saal zu verlassen. Ja, Ordnung muss sein!

Autor: Günter Lucks