Mein kleiner Kobold (1939-44)

von Claus Günther | Bei vielen Kindern, die hierzulande in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickten, waren Zärtlichkeiten vonseiten der Eltern Mangelware. Liebkosungen, so scheint mir, waren eher unüblich – das 19. Jahrhundert, in dem die Kinder ihre Eltern zu siezen und mit „Herr Vater“ und „Frau Mutter“ anzusprechen hatten, lag noch nicht allzu lange zurück.

Doch immerhin sollte es den Kindern, soweit die finanzielle Lage dies zuließ, an materiellen Dingen nicht fehlen. In dieser Hinsicht war ich ein verwöhntes Einzelkind. Ich hatte unter anderem eine mechanische Eisenbahn, einen Steinbaukasten und einen Stabilbaukasten mit lauter Metallteilen. Damit sollte ich – „Du hast zwei linke Hände, Junge!“ – handwerkliches Geschick lernen. Genützt hat es nichts, meine Abneigung gegen dergleichen ist eher gewachsen. Auch meine Bleisoldaten rührte ich kaum an, und ich war immer sehr erstaunt, wenn Klassenkameraden, die mich am Geburtstag besuchten, begeistert mit meinen Sachen spielten.

Meine Domäne waren Bücher, von Anfang an. Sie beflügelten meine Fantasie. Allenfalls das Kaspertheater weckte mein Interesse, doch dafür fehlte das Publikum. Ich durfte damit nicht nach draußen, auch bei schönem Wetter nicht, denn alles war ja neu und durfte nicht schmutzig werden.

Es gab aber noch ein Problem. Die Figuren waren zu schwer für meine kleinen Patschhändchen. Wenn ich in den Kasper hineinschlüpfte, kippte dessen Kopf vornüber. Doch dann bekam ich Kobold. Er war bedeutend kleiner als meine anderen Handpuppen, und es hieß, er sei ein Waldgeist. Das gefiel mir. Kobold sah aus wie das Sandmännchen, doch er trug keinen Bart. Sein Gewand war blau, seine Zipfelmütze ebenso. Auch in seine Ärmchen konnte ich hineinschlüpfen, ja, ich konnte ihn in die Hände klatschen lassen – doch es klatschte nicht. Kobolds Hände und sein Gesicht waren rosa, und er hatte lustige Augen wie mein Teddy, der irgendwann verloren gegangen war, nur kleiner.

Ich gab Kobold keinen Kosenamen. Hätte ich ihn etwa „Kobi“ oder „Boldi“ nennen sollen? Ein Waldgeist heißt Kobold – basta. Kobold konnte ich alles erzählen was ich empfand oder was mich bedrückte. Er wurde schnell zu meinem Vertrauten und schlief immer neben mir. Als ich größer wurde, war er mir nicht mehr ganz so wichtig, ich legte ihn auch schon mal auf dem Nachttisch ab.

Dann aber – ich war inzwischen 13 Jahre alt – kam die Zeit, da wir Kinder evakuiert wurden. Fern der Heimat, in „sicheren Gebieten“, sollten wir vor den Bombardements geschützt sein, wir, die deutsche Jugend, der die Zukunft gehörte.

Am Abend vor der Abreise nahm ich noch einmal meinen kleinen Kobold in die Hand. Er war alt geworden, abgegriffen und sogar ein wenig schmuddelig. Liebend gern hätte ich ihn mitgenommen in die Kinder-Landverschickung! Ich überlegte, ob ich ihn einpacken und verstecken sollte, aber am liebsten hätte ich ihn ja mit ins Bett genommen, da draußen irgendwo, in der Ferne. Wasdennwiedennwodenn? Als dreizehnjähriger Hitlerjunge? Wohl verrückt geworden!

Welch eine Schmach, welch eine Schande! Ich wäre unterdurch. Man würde mich – ich weiß nicht, was man mit mir gemacht hätte. Diese Entdeckung konnte und wollte ich nicht riskieren, und das sagte ich dann auch Kobold, ehe ich ihn noch einmal streichelte, behutsam in mein Bett legte und gut zudeckte, so wie früher.   

Am Abreisetag, es war der 1. Mai 1944, bin ich noch einmal durch die Wohnung gehüpft und habe leichtfüßig Abschied genommen von allen Räumen, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Am 25. Oktober 1944 schlug in das Haus eine Bombe ein und alles wurde ein Raub der Flammen.

Autor: Claus Günther