Eine lebendige Puppe (1945)

von Frauke Petershagen | Glühend beneideten meine Schwester und ich unsere Spielgefährtinnen, die Puppen besaßen, die mit den Augen klappern oder Mama sagen konnten. So etwas hatten wir nicht. Aber dann verkündete unsere Mutter eines Tages, dass wir in kurzer Zeit Familienzuwachs bekommen würden … eine echte lebendige Puppe. Oh, was waren wir aufgeregt! Da konnte keine unserer Freundinnen mithalten.

Ich war achteinhalb Jahre alt, meine Schwester sieben, und es fiel uns schwer, die Zeit abzuwarten, bis das Baby endlich zu uns kam. Das Märchen vom Klapperstorch wurde uns nicht erzählt. Wir durften schon mal Mamas Bauch anfassen und das Zucken und Strampeln des kleinen Wesens fühlen.

Noch vor seiner Geburt Mitte Februar war das Leben des zukünftigen Erdenbürgers jedoch schon bedroht. Kurz vor der Entbindung machte meine Mutter sich mit ihren beiden Töchtern auf den Weg zum Dorfkrämer in der Nähe des Zollenspieker Bahnhofs.

Obgleich nicht eine Flocke Schnee lag, wollte meine Schwester unbedingt den Schlitten mitnehmen, was ihr nach langem Quengeln schließlich gestattet wurde. Als wir nach dem Einkauf aus der Tür traten, hatte es inzwischen geregnet. Durch Blitzeis war der Deich mit seiner gewölbten Kuppe aus Kopfsteinpflaster in eine spiegelglatte Rutschbahn verwandelt worden. Ein Sturz meiner hochschwangeren Mutter hätte mit Sicherheit eine Fehlgeburt zur Folge gehabt.

Was tun? Wir nötigten sie, sich auf den Schlitten zu setzen, was ihr äußerst peinlich war und wozu sie sich erst nach längerer Diskussion bereiterklärte. Es gehörte sich doch nicht, als erwachsene Frau auf einem Kinderschlitten zu sitzen und das in ihrem Zustand!

Die zwei Pferdchen spannten sich davor und im Schlingerkurs ging es Richtung Heimat. Mehr als einmal drohte das Gefährt mit seiner Last vom Deich zu rutschen, zum Glück ging aber alles gut.

Etwa vierzehn Tage später wartete am Bahnhof Zollenspieker eine kleine Schar Nachbarinnen mit einem leeren Kinderwagen auf die Ankunft der Bimmelbahn. Sie brachte nach langem Warten eine erschöpfte Mutter mit einem kleinen Bündel auf dem Arm, das in den mit einem heißen Stein vorgewärmten Wagen gelegt wurde. Es war stickendüster, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, dennoch orgelte eine der Frauen im tiefsten Bass: „Och, was issi doch bloß nüdelich!“ Ich war empört, hatten wir doch kein Mädchen, sondern einen Bruder bekommen.

Zu Hause wartete ich voller Spannung darauf, dass das Baby aus seiner Verpackung geschält wurde. Welche bittere Enttäuschung! So hatte ich mir unsere neue Puppe nicht vorgestellt. Mit ihrem runden Kopf und der Wollmütze, die links und rechts in kleinen Zipfelchen endete, sah sie wie Kater Mohrle aus. Die fest zugekniffenen Augen verstärkten diesen Eindruck noch. Unter der Kopfbedeckung verbarg sich eine Glatze mit nur einzelnen Härchen.

Das Schlimmste kam allerdings noch, als dieses Wesen nun die Augen öffnete. Das Gör schielte! Ich war total frustriert, versicherte meiner Mutter aber pflichtgemäß, wie hübsch das Kind sei.

Als unser Neuankömmling nun jedoch leise maunzte, die klitzekleinen Finger zu einem Fächer spreizte und dann wieder zur Faust ballte, da waren meine Schwester und ich hin und weg. Unsere Kinderherzen flogen diesem hilflosen Würmchen zu, und es entbrannte ein erbitterter Kampf zwischen uns, wer denn wohl dem Winzling das Fläschchen geben durfte. Jede erhob Anspruch darauf. Beim Windelwechsel blieb ich meistens Sieger, und ich war stolz wie ein Spanier, wenn das Zappelbündel wieder sauber in Luren verpackt war.

Am liebsten hätten wir den ganzen Tag mit unserer neuen Puppe rumgetüdelt und sie auch abends mit ins Bett genommen. Dem schob meine Mutter aber energisch einen Riegel vor. Wir durften unser Pummelchen jedoch ab und zu in das Himmelbett für unsere anderen Puppenkinder legen. Die waren inzwischen in eine dunkle Ecke verbannt worden und führten dort ein unbeachtetes und vergessenes Dasein. Auch an unseren anderen Spielsachen, Puppenstube und Krämerladen, hatten wir jedes Interesse verloren.

Wir wurden nicht müde, immer neue Kosenamen für unsere strampelnde Wunderpuppe zu erfinden, die uns ein zahnloses Lächeln schenkte und Sonnenschein in die grauen Tage vor dem Kriegsende brachte.

Sie konnte zwar nicht Mama sagen, das kam erst später, aber durch lautstarke Töne war sie sehr wohl in der Lage, Unmut oder Zufriedenheit auszudrücken. Und das alles ohne Batterieantrieb!

Das Schielen hatte sich nach wenigen Tagen gegeben, und wenn unsere lütte Smusepopp die Lippen zu einem zarten Schmatzen spitzte, konnten wir Geschwister in laute Entzückensschreie ausbrechen.

War das Leben des kleinen Wesens schon vor der Geburt in Gefahr gewesen, so drohte jetzt erneut Ungemach. Meine Mutter hatte keine Milch und konnte das Neugeborene nicht stillen. Die bläuliche Flüssigkeit, die wir beim Händler bekamen, war gepanscht und wenig nahrhaft. Anstatt zuzunehmen wurde das Kind immer magerer. Direkt neben unserem Haus befand sich ein großer Bauernhof mit reichlich Viehwirtschaft. Als meine Mutter sich mit der Bitte um Milch an die Besitzer wandte, wurde sie mit den Worten „Wi hebbt sülms keen Melk nich!“ abgeschmettert. Und das, obgleich nicht eine Kuh trocken stand.

Hilfe fanden wir bei einem Bauern einige hundert Meter weiter am Elbdeich. Hier durften wir täglich Milch für unsere „Lieblingspuppe“ holen. Die Sache hatte nur einen Haken. In Hoopte, uns gegenüber auf der anderen Elbseite, befand sich bereits der Tommy. Und der hatte gute Scharfschützen. Jede Deckung nutzend hüpften meine Schwester und ich in wilden Sprüngen über den Deich und dann mit der gefüllten Milchkanne wieder zurück nach Haus. Es wurde aber nicht ein einziger Schuss auf uns abgegeben.

Unsere Wohnung im ersten Stock war vom gegenüberliegenden Elbufer gut einsichtbar. Als die Nachbarin im Souterrain des Hauses zu ihrer Tochter ins Hinterland flüchtete, nahm meine Mutter gern das Angebot an, ins Kellergeschoss zu ziehen. Die Fenster lagen direkt hinter dem Deich und waren somit gegen Einblicke gut geschützt.

Eines Tages nun fiel es einem Lastwagen ein, anstatt auf Schleichwegen durchs Binnenland, über den Elbdeich eine Gruppe Arbeitskräfte zur Vierländer Bäckerei Ohde zu bringen. Es handelte sich um Jungrussen aus dem KZ Neuengamme.

Der LKW wurde vom Tommy beschossen, und der strohgedeckte Bäckerladen ging in Flammen auf. Ebenso das schöne Hufnerhaus daneben. Die nächsten ziegelgedeckten Häuser übersprang der Rote Hahn. Durch Funkenflug und ungünstigen Wind fand er dann aber neue Nahrung in dem alten Bauernhaus neben uns. Im Nu brannte es lichterloh.

Meine Schwester und ich waren beim Abwaschen und wunderten uns über den Rauch, der in die Räume drang und immer dichter wurde. Meine Mutter hatte bereits damit gerechnet, dass auch unser Nachbarhaus ein Opfer der Flammen werden würde und rettete Hausrat aus dem Bauernhof.

Vorher hatte sie uns Kindern die strikte Anordnung gegeben, die Wohnung ja nicht zu verlassen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, ein paar deutsche Soldaten stürmten herein und zerrten uns ins Freie. Erst jetzt sahen wir die lodernden Flammen und spürten die sengende Hitze. Dicker Qualm hüllte uns ein und erschwerte das Atmen. Von den Soldaten erhielten wir die Anweisung, ins Hinterland zu flüchten. Ich versuchte jedoch, zurück in die Wohnung zu rennen, wurde aber von den Vaterlandsverteidigern daran gehindert. „Mein Bruder, mein Bruder“, stammelte ich hustend. Sofort ließ man mich los, die Soldaten stoben davon und erschienen kurz darauf wieder mit dem Kinderwagen. Friedlich schlafend lag darin unser Sonnenscheinchen. Von all den Aufregungen hatte es nichts mitbekommen.

Übrigens… aus dieser heißgeliebten Lieblingspuppe ist inzwischen längst ein gestandenes Mannsbild mit üppigem, graumelierten Haarschopf und Vollbart geworden, das demnächst Großvaterfreuden entgegensieht. 

Autorin: Frauke Petershagen