Im Keller … (1935-44)

von Claus Günther | … ist es duster.“ Beim Bauen zulässig sind sie selbst heute noch, die Kellerräume ohne Fenster. Und wenn du dann, als Mieter, deinen Keller am Ende eines langen, dunklen Ganges hast, so ist das selbst für Erwachsene nicht angenehm. Und erst die Kinder! Wohnt denn nicht auch der „Bi-Ba-Butzemann“ im Keller? Eben. Da kann einem ganz schön angst und bange werden!

Einst wurden im Keller Kohlen und Holz gelagert; im Winter kamen oft Kartoffeln dazu. Ich erinnere mich an einen Haublock im Keller meiner Großmutter, auf dem wurde Holz zerkleinert. Außerdem hing an einer Wand ein Fliegenschrank, dessen Tür kein Fenster hatte, sondern aus sehr feinmaschigem Draht bestand – um Fliegen abzuhalten, genau! Es war kalt im Keller; Kühlschränke kannte man in früheren Zeiten nicht.

Ich mochte wohl vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, da sagte im Sommer ein ziemlich großer Junge zu mir, ich solle doch am Nachmittag um drei mal da hinten hinkommen, „in das helle kleine Häuschen, das kennst du doch, da treffen wir uns alle im Keller und ziehen uns aus. Kommst du?“ Das klang verlockend, aber ich fragte erst mal meine Eltern. Die fielen aus allen Wolken; sie verboten mir, da hinzugehen, und mein Vater murmelte was von „Homo“.

Bisher kannte ich nur „Mitschnacker“, und dass man von denen nichts annehmen darf, mitgehen darf man sowieso nicht.

Beim Spielen mit Kindern aus der Nachbarschaft hieß es plötzlich: „Geh da nicht so nah ran!“ Gemeint war der Keller unter dem Häuschen mit der grünen Pforte. Da wohnten Juden, und es gab einen Spottvers: „Und fängt dich der Jud, wird er dich schlachten!“ Das glaubte ich nicht. Warum? „Weil du ein Kind von Christen bist, darum.“ Das Häuschen war mir plötzlich unheimlich.

Etwa um 1939 gab es jeden Sonntagvormittag um 11 Uhr Kinovorstellungen für 50 Pfennig auf allen Plätzen. Neben Tier- und Heimat-Filmen wurde auch kriegerische Propaganda gezeigt. Ich erinnere mich an einen Film, in dem deutsche Zivilisten vor polnischen Soldaten in einen Keller geflüchtet waren. Von außen wurde ein MG (Maschinengewehr) durchs Kellerfenster geschoben und ratterte los. Ein todesmutiger Deutscher schlich sich von der Seite an, hängte sich an den Lauf des MG und verbog diesen so, dass die Salven nur den Boden trafen. Dass die Deutschen die „bösen“ Polen besiegten, war natürlich klar.

Spätestens zu Beginn des Krieges waren alle Trocken- und Gemeinschaftsräume in den Kellern der Wohnhäuser zu Luftschutzräumen umgebaut worden. Stützpfeiler vom Boden bis zur Decke sollten das Einstürzen verhindern, zweistöckige Bettgestelle standen zum Ruhen und Schlafen bereit. Eine weibliche Hilfskraft des Schlachters, der unten in unserem Haus seinen Laden hatte, nutzte den Raum für ein Techtelmechtel mit einem deutschen Soldaten, der auf Urlaub oder auf Dienstreise war. Zu ihrem Unglück hatte er, so hieß es, einen „Präser“ hinterlassen (was das war, ahnte ich damals nicht mal). Das Ding fand ihr Chef, stellte sie zur Rede – und sie verlor ihren Job.

Was Bomben anrichten können, war spätestens seit der „Operation Gomorrha“ im Juli 1943 klar. Ganze Stadtteile waren danach wie ausradiert, etwa 40.000 Menschen kamen ums Leben, überwiegend Frauen und Kinder. Harburg, wo wir damals wohnten, war verschont geblieben, doch der Krieg ging weiter.

Mein Vater war inzwischen Soldat, und ich war nach Tschechien evakuiert worden, im Rahmen der Kinder-Landverschickung. Meine Mutter lebte allein zu Hause. Ein einfacher Keller, das war ihr längst klar, war nicht sicher genug. Sie ging daher bei Alarm in das Schulgebäude gegenüber von unserem Haus, so auch am 25. Oktober 1944. An diesem Tag erlitt Harburg das schwerste Bombardement.

Auch unser Haus wurde getroffen. Sie sieht es, als sie nach der Entwarnung aus dem Keller des Schulgebäudes herauskommt. Und sie hat nur einen Gedanken: Retten, was zu retten ist. Ein letztes Mal hastet sie die Treppen hoch, stürzt ein letztes Mal in die Wohnung, rafft zusammen, was ihr in die Finger kommt. Dann ein Rufen: „Ist da oben noch jemand? Raus, raus, das Treppenhaus brennt!“

Dieser Mut der Verzweiflung von meiner Mutter ist kaum nachzuempfinden, wurde nie verarbeitet und machte sie krank, über Jahre. Ich verneige mich.

Autor: Claus Günther