Beethoven und die deutsche Einheit (1986 bis heute)

von Astrid Wörn | Ich habe keine Erinnerung an den 3. Oktober 1990. Aber ich mache mir Gedanken zum 3. Oktober 2020.

Vorschau: Am 3. Oktober werden Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin Beethoven spielen. Der muss immer herhalten, wenn es feierlich sein soll. Wie einfallslos. Ich will auch kein Bürgerfest. Weil mir Fressmeilen mit dazwischen hippenden Bands und Buden mit Freundschaftsarmbändern gehörig auf den Geist gehen. Und weil gerade viele Menschen in Ost und West wegen Corona um ihre materielle und mentale Existenz kämpfen und wohl ganz andere Sorgen haben.

Rückblick Sommer 1986: Das erste Mal besuchte ich noch zu DDR-Zeiten meine Cousine nebst Mann und Kindern. Es war eine intensive Woche voller Gespräche, Besuche, Begegnungen. Bei 30 Grad im Schatten fuhren wir über Land, bis in die frühen Morgenstunden saßen wir auf der Terrasse und hielten uns mit starkem Kaffee wach, weil wir gar nicht aufhören konnten, uns gegenseitig unsere Geschichten zu erzählen. So etwas bleibt.

1990: Ich habe mich für meine Verwandten in Dresden gefreut. Endlich keine Stasi-Bespitzelung mehr, kein Abhör-Knattern im Telefon, keine Wachhunde unter dem Zug an den Grenzübergängen. Aber etwas bemerkte ich. Die Beziehungen veränderten sich. Kurz nach der Wiedervereinigung gab es keine Briefe mehr an meine Mutter, die über Jahrzehnte einmal im Monat an mehrere Familien Pakete schickte. Na, danke schön auch.

Mein zweiter Besuch im Sommer 1994 endete mit einer spürbaren Entfremdung auf beiden Seiten.

August 2020: Die Weltlage und unsere eigene im Land wären gute Möglichkeiten gewesen, es dieses Jahr einmal anders zu machen. Ohne große Ansprachen, ohne Beethoven. Kleine stille Plätze, wo Menschen sich ihre Geschichten erzählen. Oder einfach um Frieden bitten. So, wie ich es gerade bei uns auf dem Dorfplatz erleben durfte. Eine Frau begann zu singen. Einen bekannten Choral und dann das Volkslied von den freien Gedanken. Viele Menschen blieben mit ihren Einkaufsbeuteln stehen und begannen, mitzusingen. Wir auch. Plötzlich lag etwas anderes in der Luft. Ruhe, Begegnung mit den Augen über die Masken hinweg.

Ich hatte damals 1990 gehofft, dass Ost und West es schaffen, etwas Besseres zu kreieren. Leisere Töne zu finden. Aber wieder einmal nahmen die skrupellosen Macher das Steuer in die Hand. Westdeutsche benahmen sich wie Kolonialisten und ostdeutsche Betonköpfe glaubten weiterhin an den Sieg des Proletariats. Kluge und weitsichtige Mahner in beiden Teilen der neuen vereinten Republik wurden ausgelacht und ausgegrenzt. Das Westgeld lockte und sollte nach kurzem bösen Erwachen vielen die Existenz und den Lebensmut kosten.

Und wo stehen wir heute nach 30 Jahren? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich hoffe auf die Klugen, die Besonnenen, die Unbestechlichen und Unbeirrbaren.

Autorin: Astrid Wörn