Zweifel (1949)

von Claus Günther | Im Rückblick sehe ich das Jahr 1949 als eine Zeit des Umbruchs. Gegründet werden die Bundesrepublik, die DDR und die Volksrepublik China, ferner die NATO und der Europarat. Westberlin leidet nach wie vor unter der Blockade der Sowjets; die Luftbrücke der Westalliierten versorgt die „Insulaner“ noch bis zum Ende der Blockade im Mai.

In „Trizonesien“ – der englischen, amerikanischen und französischen Besatzungszone – finden die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag statt (übrigens ohne Berlin). Ich mit meinen 18 Jahren bin noch zu jung zum Wählen; wahlberechtigt war man damals erst ab 21. „Hein und Fietje, ich und du, wir alle wählen CDU!“, tönte es aus dem Lautsprecher eines Werbe-Autos. „Ich aber nicht!“, dachte ich nur.

Sepp Herberger tritt sein Amt als Fußballtrainer der deutschen Nationalelf an. William Faulkner erhält den Nobelpreis für Literatur, Arthur Miller den Pulitzerpreis für sein Drama „Tod eines Handlungsreisenden“, George Orwell veröffentlicht seinen düsteren Zukunftsroman „1984“.

Mich interessiert das alles nur am Rande. Ich darf endlich öffentlich rauchen (was damals Jugendlichen unter 18 verboten war), und ich schwinge das Tanzbein, und wie! Mein Kurs läuft dienstags, doch beim Mittwochskurs herrscht „Herrenmangel“ – nun, da springt man doch gerne ein! Am Wochenende geht’s dann schon mal auf den öffentlichen Tanzboden, zumal neuerdings für den Montag „arbeitsfrei“ ist, also keine Hausaufgaben für die Schule anfallen.

Die Quittung für meinen Schlendrian hat nicht lange auf sich warten lassen: Die 9. Gymnasialklasse durfte ich zweimal besuchen. Das Sitzenbleiben aber schien nur mir selbst etwas auszumachen. Es gab keine Vorwürfe zu Hause. Die Stimmung dort war noch gedrückter als meine.

Als Ausgebombte wohnten wir bei meiner Großmutter auf engstem Raum; mein Vater, als „Mitläufer“ entnazifiziert und entlassen, war oftmals krank und nun schon im vierten Jahr arbeitslos. Ich schämte mich, fühlte mich als Versager, sah keinerlei Perspektive. Nur beim Tanzen tobte ich mich aus. Es war – eine Flucht.

Für die Schule tat ich nur das Allernötigste, wenn überhaupt. In Deutsch hingegen hielt ich voller Begeisterung ein Referat über das Grundgesetz. Es war das erste Mal, dass ich mich mit Zeitgeschichte befasste, denn zugleich wurde die Geschichte der Weimarer Republik reflektiert. Die Hitler-Diktatur allerdings fand im Unterricht allenfalls durch den Begriff „Machtübernahme“ Erwähnung. Das war wohl alles noch „zu frisch.“

Wichtiger war, dass mein Klassenkamerad Uli und ich, sofern wir Geld hatten, nach dem Unterricht abwechselnd einen Zehnpfennig-Schein opferten – für eine einzelne Zigarette, die wir am Kiosk kauften, um sie Zug um Zug gemeinsam  zu rauchen.

Was aus mir werden sollte? Ich wusste es nicht. Ich zweifelte an allem: am Sinn des Lebens, und auch an mir.

Autor: Claus Günther

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