von Richard Hensel | Zuerst einige Sätze vorweg. Unsere Familie lebte bis Ende Januar 1946 – also bis 9 Monate nach Kriegsende – in Danzig. Uns wurde im Herbst 1945 geraten, die Ausreise aus den nun polnisch gewordenen Gebieten zu beantragen, da unsere Eltern nicht bereit waren, für Polen zu optieren.
So kamen wir im März 1946 nach Dranse, einem Dorf in der Mark Brandenburg. Dort lebten Verwandte unserer Familie. Obgleich wir nun in einem Dorf Quartier gefunden hatten, litten wir sehr großen Hunger. Die Bauern waren nicht bereit, den Flüchtlingen etwas abzugeben. Ein Vetter, der bereits ein Jahr früher dort eingetroffen war, riet mir, mich bei den Bauern um eine Stelle als Kuhhirte zu bemühen. Ich ging also von Hof zu Hof und bat um Arbeit. Das Glück wollte es, dass mich ein Bauer, dessen Hof direkt neben der Schule war, einstellte.
Ich hatte einen Arbeitsplatz. Als Lohn bekam ich dreimal am Tag satt zu essen und eine Kammer neben dem Pferdestall zum Schlafen. Die Kammer hatte die Größe einer Gefängniszelle. Es passten gerade ein Bett, ein kleiner Tisch und ein Stuhl hinein. Das Fenster hatte die Maße eines Kellerfensters, und von der Decke hing eine Glühbirne herab.
Mein Arbeitstag begann morgens um kurz nach 5 Uhr. Der Bauer kam und weckte mich. Als ich einmal nach dem zweiten Wecken noch nicht aufgestanden war, bekam ich einige Ohrfeigen. Danach hatte ich mit dem Aufstehen keine Probleme mehr.
Es begann damit, dass ich im Kuhstall den Mist unter den Kühen wegnehmen und frisches Stroh streuen musste, damit die Frauen einen sauberen Platz beim Melken hatten. Anschließend wurde der Pferdestall ausgemistet. Das bedeutete, dass ich den Mist auf eine Schubkarre laden und dann auf den Misthaufen im Hof bringen musste. Als nächste Tätigkeit wurden die Pferde geputzt. Zwischendurch gab ich den Pferden Futter und Wasser. Mit all diesen Arbeiten war ich ungefähr um kurz vor 7 Uhr fertig.
Nun wurden die Kühe auf die Koppel getrieben. Der Weg bis dorthin dauerte ungefähr 20 Minuten. Zurück zum Hof lief ich in gut 8 Minuten, denn ich musste mich ja noch waschen und frühstücken.
Um 8 Uhr begann die Schule. Es war eine Dorfschule mit nur einer Klasse. In der ersten Reihe saßen die jüngsten und in der letzten Reihe die ältesten Schüler. Auch hatten wir nur eine Lehrerin.
Nach Schulschluss ging ich zurück auf den Hof. Ich bekam Mittagessen. Danach lief ich mit dem Hütehund zur Koppel, um die Kühe auf eine Weide zu treiben. Wenn das Wetter gut war, nahm ich meine Schulsachen mit und machte meine Schularbeiten. Zwischendurch durfte ich den Blick nicht von den Kühen lassen. Diese versuchten nämlich immer wieder auf angrenzende Felder zu laufen, weil sie dort besseres Futter fanden. Auch litten sie sehr unter den Bissen der Pferdefliegen (wir nannten sie „Bremsen“).
Gegen 18 Uhr war ich mit den Tieren wieder auf dem Hof, damit sie gemolken werden konnten. Ich fütterte und tränkte die Pferde, um danach unter den Kühen den Mist wegzunehmen und frisches Stroh zu streuen. Das war notwendig, damit die Tiere, wenn sie sich zur Nacht hinlegten, nicht gleich in ihrem Kot lagen. Wenn all diese Arbeiten erledigt waren, gab es Abendbrot. Anschließend habe ich dann noch meine Schularbeiten erledigt, wenn bei Regenwetter am Nachmittag auf der Weide dies nicht möglich war.
Spätestens um 21.30 Uhr lag ich im Bett, denn um 5 Uhr am nächsten Morgen begann der neue Arbeitstag, auch am Sonntag.
Autor: Richard Hensel