Die Ladenbesitzerin (1945/46)

von Claus Günther | Die sogenannte schlechte Zeit kurz nach dem Krieg sorgt immer wieder für Gesprächsstoff zwischen Ingrid und mir, obwohl, oder vielleicht auch: weil wir schon mehr als 60 Jahre verheiratet sind. Einerseits musste jeder Mensch froh sein, überlebt zu haben, andererseits hatten die Erwachsenen in den allermeisten Fällen wesentliche Lebensgrundlagen verloren. Beruf, Haushalt, Mobiliar, Kleidung, Erspartes – alles war vernichtet, von Schmuck gar nicht zu reden. Nicht wenige verloren darüber hinaus Verwandte sowie ihre Heimat oder ihre vertraute Umgebung.

Ingrids Vater besaß vor dem Krieg einen Milch- und Feinkostladen in der „Fuhle“, wie der Hamburger die Fuhlsbüttler Straße nennt. Bei einem Bombenangriff ging alles zu Bruch: das Haus, die Wohnung, der Laden. Zurück blieben nichts als Trümmer. Dieses Schicksal passierte auch meinen Eltern und mir: Auch wir wurden total ausgebombt. (Nur einen Laden haben wir nie besessen.)                                                                                                

Doch wir Kinder, 1945 vierzehn bzw. dreizehn Jahre alt, verloren nicht nur unser Zuhause und unsere Kleidung, sondern auch sämtliche Spielsachen und notgedrungen – durch den erzwungenen Umzug – unsere Freunde und Spielkameraden.

Zum Glück kam ich im mir vertrauten Häuschen meiner Großmutter unter, Ingrid hingegen zog mit ihren Eltern und ihrer Schwester in ein Behelfsheim nach Holm-Seppensen. Das einzig Gute daran war, dass sie fortan auf dem Lande lebten und meistens genug zu essen hatten. Ich hingegen durchlebte Zeiten des Hungerns. Als bald darauf jedoch Untermieter bei meiner Oma auszogen, bekam ich immerhin ein eigenes Zimmer.

Das Behelfsheim in Holm-Seppensen aber war wirklich nicht mehr als ein Behelf mit seiner winzigen Küche und dem klitzekleinem Wohn- und Schlafzimmer. Wer hatte da noch etwas Eigenes? Dabei wäre es doch so wichtig gewesen für das heranwachsende junge Mädchen im „Backfischalter“, wie man damals sagte.

Immerhin war Ingrid so etwas wie eine „Ladenbesitzerin“. In Österreich nämlich sagt man „Lade“, wenn man die Schublade meint – und die besaß sie tatsächlich (wenngleich das mit Österreich überhaupt nichts zu tun hatte). Eine Schublade –   e i n e ! – für ihre persönlichen Sachen. Diese Lade aber war nicht abschließbar und besaß folglich für Ingrids vier Jahre jüngere Schwester eine magische Anziehungskraft. Was beschäftigte die „Große“, was versteckte Ingrid vor ihr, welche Geheimnisse gab es? Eigentlich keine, doch die Neugier war stärker als das Verbot: „Du hast schon wieder in meiner Schublade geschnüffelt! Lass die Finger davon! Wenn ich dich noch einmal erwische, dann – !“

Es war halt nicht einfach, das Leben als „Ladenbesitzerin“, damals ebenso wenig wie heute, im richtigen Leben.

Autor: Claus Günther