Zunächst nur eine Bombe zum Anschauen (1934-43)

von Claus Günther | Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Das ist 80 Jahre her. Der genaue Zeitpunkt des Angriffs war – entgegen Hitlers Darstellung – nicht 5 Uhr 45, sondern 4 Uhr 47, und nicht etwa Polen griff uns an, sondern das deutsche Linienschiff „Schleswig-Holstein“ feuerte die erste Salve gegen polnische Truppen ab, die auf der Westerplatte nahe Danzig stationiert waren.

Die Schuldfrage ist geklärt, wie wir heute wissen. Wie aber verhielten sich zivile (zivilisierte!) erwachsene Deutsche, insbesondere die Männer? Waren sie für den Krieg, waren sie gar schuld am Krieg? Mein Vater – Jahrgang 1901 – ganz gewiss nicht. Mit seinen 38 Jahren war er zu alt, um eingezogen zu werden.

Das geschah erst 1943, da war er mit 42 Jahren plötzlich jung genug.

Aber kam denn der Krieg 1939 überraschend, gab es keine Vorzeichen? Doch. Reichlich. Bereits am 17. Januar 1934 (!) fand in Hamburg eine große Verdunklungsübung statt. 1937 wurde die so genannte Volksgasmaske Pflicht; im Januar 1939 gab es erneut eine Luftschutzübung. Die Bevölkerung war also „eingestimmt“.

Und was ist mit uns, mit uns Kindern? Bei Kriegsausbruch bin ich acht Jahre alt. Die Tageszeitung und das Radio sind meine Informationsquellen, wie man heute sagen würde. Inhaltlich verstehe ich längst nicht alles – aber weitaus mehr, als Erwachsene vermutlich denken. Was ich lese, macht mir Angst. Und dann das: Hitlers Rede im Radio zu Beginn des Krieges.

Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft!

Ich bin entsetzt, meine Eltern sind es auch, aber wir schweigen aneinander vorbei. Sie, die Eltern, haben den Ersten Weltkrieg miterlebt; sie wollen mich sicher nicht beunruhigen. Und ich wage nicht, sie anzusprechen. „Kinder haben den Mund zu halten!“ Das funktioniert.

Ich bleibe allein mit „meiner“ Bombe, die mit Bombe vergolten wird.

Ich weiß, wie eine Bombe aussieht. Auf dem Rathausplatz in Harburg steht eine Nachbildung, etwa drei Meter hoch (FOTO siehe nachfolgende Seite). 1916, im Ersten Weltkrieg, so die Inschrift, starben durch solch ein Teufelsding in Karlsruhe 120 deutsche Menschen, darunter 71 Kinder. Und ich bleibe allein mit dem Giftgas, das Hitler angesprochen hat. Gas ist gefährlich; man riecht es, wenn der Anzünder am Gasherd nicht gleich funktioniert. Giftgas hat bereits im Ersten Weltkrieg Menschen getötet.

Und da ist noch etwas. 1914, so hatte ich gelesen, sind Soldaten siegesgewiss in den Krieg gezogen, vom Jubel der Bevölkerung begleitet. Jetzt aber, 25 Jahre später, scheint lähmende Stille um sich zu greifen; ringsum jubelt niemand mehr.

Wer dem NS-Staat dient, wer wehrfähig ist oder gemacht wird, sollte sich spätestens nach 1945 die Frage nach persönlicher Schuld stellen, doch viele verleugnen oder verdrängen sie – bis heute. Was aber hätte ich getan, wie hätte ich gehandelt und mich verhalten, wenn ich damals bereits erwachsen gewesen wäre? Diese Frage nimmt mir niemand ab.

Autor: Claus Günther