Nach London mit der Fähre (1960)

von Otmar Hoffmann | „Tower, Big Ben, Soho, im Nebel…“, so meine Vorstellung von London als 16-Jähriger. Mein Onkel Rudi lebte dort, hatte Wurzeln geschlagen und mich dorthin eingeladen.

Ein kurzer Rückblick vor dem Zweiten Weltkrieg

Die Familie Hoffmann: Eltern, Tochter Lotte, Söhne Rudi und Willi (mein späterer Stiefvater) lebten in Kattowitz im deutschen Teil von Oberschlesien. Eine Bergarbeiterfamilie in Frieden mit den polnischen Nachbarn in Myslowice. Rudi besuchte dort im  benachbarten polnischen Ortsteil das Konservatorium. Willi lernte im Metallhandwerk.

Der Kriegsbeginn: Willi wurde bald danach zur Wehrmacht eingezogen. Man brauchte ihn als Leichtmetallschweißer beim Bodenpersonal der Luftwaffe. So geriet er auch in Frontnähe. Bei einer Durchfahrt im Mannschaftstransport in Richtung Ostpolen/Weißrussland dürfte er dort Zeitzeuge von Massakern an jüdischer Zivilbevölkerung gewesen sein, unter dem Schutz der Wehrmacht (seine Schilderung in den 50-er Jahren). Gegen Kriegsende geriet er in Schleswig-Holstein in englische Kriegsgefangenschaft, wurde aber bald entlassen und fand Arbeit in der Werkstatt der Kleinbahn Kiel-Segeberg. Er blieb in Bornhöved und heiratete meine Mutter Erika.

Onkel Rudi wurde bei Kriegsbeginn von der polnischen Armee eingezogen und nach dem deutschen Einmarsch gefangen genommen und in ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht gesperrt. Nach Feststellung seiner Herkunft wurde er gemustert, als U-Boot-tauglich eingestuft und der deutschen Marine überstellt, ausgebildet und in einer U-Boot-Mannschaft verwendet.

Im Mai 1945 kapitulierte der Kommandant und übergab sein Boot den Engländern. Nach kurzer Gefangenschaft in England blieb Rudi dort, fand Arbeit, schlug Wurzeln. Dank seiner Sprachkenntnisse schaffte er den Ein- und Aufstieg bei einer russischen Bank in London. Er heiratete und erwarb ein Reihenhaus im nördlichen Vorort Enfield.

Die Familie Hoffmann war nun geteilt. Vater, Mutter, Tochter konnten weiterhin in ihrer alten Heimat leben, aber nun unter polnischer Verwaltung. Rudi blieb in England mit englischem Pass. Willi kümmerte sich um uns in seiner „neuen Heimat“ mit „neuer Familie“, zu der ich nun auch zählte.

Der „Eiserne Vorhang“ hatte sich gesenkt, die Verbindungen unterbrochen.

Meine Fahrt allein nach London. Raus aus dem Alltagstrott einer Eisenwarenhandlung im zweiten Lehrjahr. Mit der Deutschen Bundesbahn weiter in Richtung Holland zum Fährhafen Hoek van Holland. Abends auf die Fähre. Nachts Seegang und Übelkeit – falsche Seite gespuckt – die Ladung retour.

Im Morgengrauen in Harwich angelandet. Die Jacke roch immer noch, peinlich.

Der Zug Richtung London stand bereit, die Zugwaggons mit roten Plüschsesseln, Old Englisch, frischer Kaffee aus der Kanne, vom Schaffner serviert.

Ankunft in Liverpool Street Station, umherirren, welcher Doppeldecker fährt nach Enfield? Nachdenken, wie frage ich den herumstehenden freundlichen „Bobby“. Er äußert knapp: „One Four Nine“ deutete ich als Uhrzeit – es dauerte, aber endlich kam auch ein Doppeldecker mit dieser Nummer.

Der Fahrer freundlich, half beim weiteren Umstieg, und so gelangte ich zur Mittagszeit nach Enfield.

Ein gelungenes Sightseeing quer durch London. Eine spannende Zeit folgte.

Autor: Otmar Hoffmann