Schultüte mit heißer Luft (1938)

von Claus Günther | 1. April 1938. Endlich, endlich, beginnt für mich die Schule! In ein paar Tagen werde ich schon sieben Jahre alt. Bekomme ich auch eine Schultüte? Natürlich. Eine ziemlich große sogar. Die hat mir sicher Omi gekauft. Schön sieht die Tüte aus … Was da wohl alles drin ist?

Sicher lauter Süßigkeiten, die ganze große Tüte voll! Glaubst du das? Ja, das glaubt der Claus felsenfest. Mutti sagt zwar immer: „Nicht so viel Süßes! Das macht die Zähne kaputt!“ Mutti weiß das, sie war mal Zahnarzthelferin, bevor sie geheiratet hat. Na, aber einmal wird sicher eine Ausnahme gemacht, gerade heute, wo du zur Schule kommst, kleiner Mann. Sieh mal, Joachim aus der Nachbarschaft packt seine Schultüte schon aus.

Schokolade, Bonbons, ein kleiner Plüschteddy, noch mehr Schokolade …

Jetzt will ich das auch wissen, jetzt sofort! Eine kleine Tüte Bonbons, eine kleine Tüte Lakritz … Aber da ist ja noch mehr! Ein Griffelkasten, zwei Bleistifte, ein Anspitzer, ein Radiergummi – aber das hätten meine Eltern doch sowieso kaufen müssen, das gehört doch nicht in eine Schultüte! Na komm, pack weiter aus, da ist ja noch mehr drin in der großen Tüte!

Doch was dann kam, war Papier, Papier, Papier – nichts als heiße Luft, sozusagen! Der kleine Claus, das verwöhnte Einzelkind, war maßlos enttäuscht.

Gesagt – habe ich nichts. Ich wusste, dass wir finanziell nicht auf Rosen gebettet waren. Mein Vater war zwar Staatsangestellter – das war sicher etwas Besonderes, bildete ich mir ein – doch sein Gehalt war wohl nicht allzu üppig, ganz zu schweigen von dem knappen Haushaltsgeld, das er meiner Mutter zuteilte. Ich hatte zwar konkret keine Vorstellung, um welche Beträge es dabei ging, doch ich ahnte, dass wir in bescheidenen Verhältnissen lebten. Kinder „wissen“ ja oft weitaus mehr, als Erwachsene auch nur vermuten.

Der Höhepunkt kam sowieso erst am nächsten Tag, als wir die Lesebücher aufschlugen. „O“, stand auf der ersten Seite, nichts weiter. Es war mein erster Buchstabe – der Eintritt in eine völlig neue, faszinierende Welt! Und dies, die Faszination des Lesens und Schreibens, hat mich begleitet und wird mich begleiten bis an mein Lebensende.

Autor: Claus Günther