Der heilige Geist des Grauens (1943-45)

von Hans Ebel | 1943 kam ich aus der Schule und hörte, dass ich eine Jungvolk-Uniform tragen müsse. Mein Vater weigerte sich, mir eine zu kaufen. Nicht aus Geldgründen – er war Direktor einer großen Versicherung –, sondern weil er Gegner des Nationalsozialismus war. Er hätte in die NSDAP eintreten müssen. Um dem zu entgehen, dachte er sich wohl, wenn er mich ins Internat der Herman-Lietz-Schule auf Schloss Ettersburg schickt, die auch eine militärische Ausbildung verfolgte, tut er was Gutes. Diese Schule hatte vor meiner Zeit nämlich auch ein später berühmter Nazi besucht: Wernher von Braun.

Zu Hause war mein Vater gewalttätig. Er prügelte mir Mathematik mit dem Rohrstock ein und schlug auch meine Mutter. Heute würde man ihn sicherlich wegen körperlicher Gewalt verurteilen. Wegen seiner Gewalttätigkeit war ich froh, ins Internat zu kommen, weg von zu Hause. Bis zu diesem Zeitpunkt war jedes Wissen über die Nazis von mir ferngehalten worden.

So kam ich als Elfjähriger ins Internat auf Schloss Ettersburg bei Weimar. Die schulische Ausbildung dort hat mir gut gefallen. Nachmittags wurden die Schularbeiten immer von einem Lehrer betreut, den man fragen konnte, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Das hat mir sehr geholfen. Bei meinem Klassenlehrer weinte ich mich auch aus, wenn ich Heimweh hatte. Jeden zweiten Tag war
HJ-Unterricht. Man musste alle Daten und Fakten über Hitler und sein Regime auswendig lernen und wie das Vaterunser aufsagen können. Wenn man Fehler machte, wurde man bestraft.

Ich verwechselte immer Beethoven mit Richthofen, dem Jagdflieger. Wie sollte ich wissen, wer Beethoven war? Denn bei uns zu Hause hatte mein Vater verboten, das Radio anzustellen, weil da nur die Nazipropaganda rauskam. Ich wusste nichts von dem Nazikram. Und auch nichts von Beethoven. Schon bald hieß es im Internat: „Hier erscheint jetzt der Heilige Geist.“ Das musste jeder Schüler erleben, der neu war.

Die Hitlerjungen waren auch die Stubenältesten. Sie schnappten mich, schleppten mich in den Waschraum, zogen mich nackt aus und legten mich in die Waschrinne. Dann drehten sie über mir die Kaltwasserhähne an. Das war schlimm für mich.

Fiel man im HJ-Unterricht, beim Schrank- oder Bettenappell negativ auf oder machte einen Fehler, erschien wieder der „Heilige Geist“: mit eiskaltem Wasser oder fiesen Exerzitien. Es kam von Seiten der HJ-Führer außerdem sogar zu sexuellen Übergriffen an den jüngsten Mitschülern aus dem Nebenzimmer. Sie wurden darüber zum Stillschweigen gezwungen mit der Drohung: „Wenn du darüber Meldung machst, willst du besser nicht geboren sein!“ Wenigstens das blieb mir erspart.

Die HJ auf Ettersburg war eine Nachrichten-Hitlerjugend und das Internat war ausgerüstet mit Feldtelefonen und allem, was dazu gehört. Damit wurden Übungen absolviert. Einmal wurde Telefonkabel gestohlen. Ich erfuhr, dass Mitschüler versucht hatten, einen Detektorapparat zu bauen, mit dem sie einen Radiosender empfangen konnten. Mit dem Telefonkabel, das sie von Zimmer zu Zimmer quer über den U-förmigen Innenhof spannten, hofften sie, mehr als nur einen Rundfunksender zu empfangen. Es klappte nicht, sondern sie wurden erwischt.

Zur Strafe hieß es für die beiden: Spießrutenlauf. Dazu hatten wir Mitschüler uns alle in Spalierformation aufzustellen und die beiden Delinquenten mussten, nur in Turnhosen, hindurchgehen. Mit unseren Gürteln schlugen wir auf sie ein. Beide waren älter als ich, so dass ich nicht wagte, so doll zuzuschlagen. Das bemerkten die HJ-Jungen natürlich sofort! Bei denen war ich sowieso als Memme und Muttersöhnchen verschrien und hatte ja auch noch nicht mal eine Jungvolk-Uniform, sondern nur Zivilklamotten.

Zur Strafe blieb auch mir elfjährigem Knirps der Spießrutenlauf nicht erspart! Gleich nach den beiden Mitschülern musste ich da durchlaufen und wurde mit Koppeln und Gürteln auf den nackten Rücken geschlagen.

Das Internat befand sich in der Nähe des KZs Buchenwald. Mein Freund Peter Deismann, der wie ich aus Berlin kam, und ich wurden an den Wochenenden nie von unseren Eltern abgeholt. Es war zu weit. Weil nur so wenige Schüler im Internat waren, blieb an diesen Tagen immer viel Kuchen übrig. Wir packten ihn ein und wanderten nach Buchenwald, etwa eine halbe Stunde zu Fuß.

Das war natürlich verboten. Aber wir waren ja auch Lausejungs. Außerdem hatten wir dort Gefangene gesehen, die im Steinbruch arbeiteten und so ausgehungert aussahen, dass wir ihnen mit dem Kuchen eine Freude machen wollten. Zwar wunderten wir uns über ihre blau-weiß-gestreiften Anzüge, aber vermuteten, dass es sich um Kriegsgefangene handelte. Kein Gedanke an KZ-Häftlinge kam uns, denn wir wussten wir ja nichts von Konzentrationslagern.

Sofort kamen die SS-Männer angelaufen. Ich fragte mich, warum die eine Peitsche trugen. Vielleicht eine Hundepeitsche? Dass Gefangene geschlagen wurden, war mir nicht bekannt. Wir wurden angeschnauzt, uns hier nie wieder blicken zu lassen. Natürlich drohten sie, sofort bei der Internatsleitung Meldung über uns zu machen. Aber das taten sie wohl nicht, denn die Sache hatte kein Nachspiel.

Bei einem Geländespiel mit einer anderen Schule mit Feldtelefonen erfuhr ich, dass Ettersburg in Kürze zu einer Napola, einer nationalsozialistischen Eliteschule, umfunktioniert werden sollte.

Umgehend teilte ich meinem Vater dies telefonisch mit. „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, sagte er als Nazigegner. Ich sollte im Dunkeln unbemerkt nach Weimar zu einem seiner Kollegen gehen. Dort holte er mich mit dem Auto ab.

Praktisch in einer Nacht- und Nebelaktion habe ich das Internat im Januar 1945 verlassen. Alle meine persönlichen Sachen sind dort zurückgeblieben. Ich hatte nicht mal ein Zeugnis! Nach meiner „Rettung“ aus Ettersburg brachte der Vater mich nach Berlin, nach Hause. Nur zwei Tage später schlugen im Haus gegenüber von uns Granaten ein. Wir mussten mit unseren Nachbarn aus dem Mietshaus in den sogenannten Luftschutzkeller ziehen, sprich in unseren Wäschekeller. Von hier wurde mein Vater kurz darauf zum „Volkssturm“ eingezogen.

Autor: Hans Ebel

Protokollantin: Corinna Feierabend