Zehn Tage Haft oder 58.000 Euro, sofort! (heute)

von Ingeborg Schreib-Wywioirski | Der Anruf kam um die Mittagszeit. Ich saß mit einem Freund mitten in einer schwierigen Besprechung, hatte den Kopf voller Argumente und Gegenargumente. Unwirsch nahm ich den Anruf entgegen. Meldete mich mit meinem Namen (obwohl ich mir längst vorgenommen hatte, mich nur noch mit „Hallo“ oder „Ja, bitte“ zu melden).

Eine bekümmerte männliche Stimme am anderen Ende: „Hier ist die Kriminalpolizei, regen Sie sich bitte nicht auf, Ihre Tochter hatte einen Autounfall.“ Mein Herz beginnt zu rasen, meine Beine fangen an zu zittern, nur kurz denke ich: Du hast doch gar keine Tochter. Aber Gaby, die Tochter meines bei einem Autounfall verstorbenen Mannes, immerhin auch schon 70 Jahre alt. Sie lebt bei Strande, ohne Auto ist sie verloren.

„Gaby!“ brülle ich ins Telefon. Der Kriminalpolizist: „Sie möchte mit Ihnen sprechen, ihr ist nichts passiert.“ Am anderen Ende ein Schluchzen und Wimmern! Der Kriminalpolizist wieder: „Sie kann nicht im Augenblick, sie hat einen Schock, ich soll Sie lieber informieren.“

Aufgeregt und hilflos frage ich: „Wo ist sie denn, ich bin in Hamburg; meine Stieftochter lebt bei Strande!“ Mein Herz rast weiter, was soll ich nur machen, ich denke nicht daran, dass sie in einem solchen Fall eins ihrer drei erwachsenen Kinder anrufen würde, dass ich mir immer geschworen hatte, nie Persönliches am Telefon herauszuplappern. Stattdessen frage ich: „Was ist denn passiert?“ Der Anrufer: „Sie hat einen Blechschaden verursacht, aber ihre Versicherung nicht bezahlt. Wenn sie jetzt nicht zahlt, muss sie für zehn Tage ins Gefängnis.“

Du liebe Güte, wie kann ich ihr nur helfen? „Wie hoch ist denn der Schaden?“ frage ich. „58.000 Euro“ sagt der Anrufer, „58.000 Euro?“ schreie ich. „Wofür denn, was ist das für ein Wagen?“ „Ein Porsche, aber nicht erschrecken, in ein paar Tagen zahlt die Vollkasko-Versicherung.“ Ich denke nicht darüber nach, wie sich das alles zusammenreimt, wiederhole nur: „58 000 Euro für einen Unfall mit Porsche! Wo bekomme ich so viel Geld her?“

Mein Freund gegenüber am Tisch gestikuliert, ich gebe ihm den Hörer.

Er ruhig: „So, jetzt erzählen Sie mir noch einmal, was passiert ist.“ Der Anrufer: „Wer sind Sie denn?“ Mein Freund nennt seinen Namen und wiederholt: “Erzählen Sie mir noch einmal alles.“

Der Anrufer, sagt mein Freund, beginnt nun seinerseits zu stottern und – legt auf. Noch einmal Glück gehabt. Mir ist schlecht, die Beine zittern, der Blutdruck ist hoch.

Mein Freund grinst: “Endlich habe ich mal hautnah einen Enkeltrickbetrüger erlebt!“ Ich auch! Schlagartig wird mir klar, wem ich da beinahe auf den Leim gegangen war. Habe alles falsch gemacht. Warum? Wollte doch immer mit kühlem Kopf solche Leute überführen. Aber das Stichwort „Autounfall“ schaltete meinen Verstand einfach aus, brachte ein 40 Jahre altes Schreckenserlebnis hautnah zurück. Sowas nennt man wohl ein posttraumatisches Erlebnis.

Glücklich, wer dann gerade einen Freund zur Seite hat.

Autorin: Ingeborg Schreib-Wywiorski