1968: Die großen Veränderungen (1966-68)

von Günter Lucks | In meinem Tagebuch lese ich zwei Notizen: Die erste lautet: „Mit 30 Grad ist es am 21.4. der wärmste Tag im April seit den Wetteraufzeichnungen“. Die zweite geht wie folgt: „18./19. Mai Landesbezirkstag der I.G. Druck und Papier“. Ich bin als Delegierter dorthin entsandt worden.

In der Bundesrepublik finden ab etwa 1966 große Umwälzungen statt.

Am 9. November 1967 wird in der Hamburger Universität ein neuer Direktor eingeführt. Vor 1.700 geladenen Gästen schreiten der alte und der neue Direktor würdevoll, im Ornat mit weißer Halskrause, in den Saal des Audimax. Plötzlich springen einige Studenten herbei und entfalten vor ihnen ein Transparent mit der Aufschrift „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“. Vereinzelt erheben sich wütende Proteste, ein Professor schreit gar, die Transparentträger gehörten alle ins KZ!

Danach aber geht es richtig los. Unter der Führung Rudi Dutschkes laufen Studenten in Berlin und anderswo durch die Straßen und rufen „Ho Ho Ho Tschi Minh!“, wie auch „Hoch am Dach pfeift jede Dohle: Brecht die Macht der Monopole!“.

Bald schließen sich die Arbeiter den Protesten an und skandieren: „Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff dir einen Lehrling an!“.

„Schluss mit dem Kulturkitsch!“, wird gerufen; „weg mit den blöden Filmen!“ Gemeint waren Filme wie „Der Förster vom Silberwald“ oder „Rosen-Resli“. Ich finde jedoch, dass man nicht alles gutheißen konnte, so zum Beispiel die Rufe einiger „Extremisten“, wie ich sie nennen mag, dass deutsche Polizisten Mörder und Faschisten seien. Auch wenn ich hin und wieder an Protestmärschen teilnahm, so sagte mir mein Sohn, dass ich oft noch dem „bürgerlichen Schwachsinn“, wie er sich ausdrückte, verfallen sei.

In der Nazizeit und den langen Jahren der Kriegsgefangenschaft hatte ich viel Schlimmes erlebt. Ich hatte keinen Sinn mehr für Uniformen, den Befehlston oder Marschlieder. Stattdessen schwärmte ich für die Big Bands, für Tommy Dorsey und Glenn Miller. Mein Sohn befand, diese Musik sei „nicht mehr in“; seine Idole waren die Avantgardisten Dieter Süverkrüp, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Udo Lindenberg sowie die Kölner Rockgruppe „Floh de Cologne“!

Viele der damaligen Aktivisten der 1968er Bewegung haben ihre „Sturm- und Drangzeit“ hinter sich gelassen und sind häufig zu erfolgreichen Geschäftsleuten, Juristen oder Bundestagsabgeordneten geworden. Bei einigen lässt sich feststellen, dass sie heute nicht mehr auf die Idee kämen, wie damals zu rufen: „Hoch die Internationale Solidarität!“ Vielmehr würde aus ihren Mündern vernommen werden: „Hoch das Internationale Kapital!“.

Bei den Berlinern, die für ihre Schlagfertigkeit und ihren Witz bekannt sind, heißt der Text der „Internationale“ nun „Die Überlandzentrale versorgt Berlin mit Licht!“

Autor: Günter Lucks