Not macht erfinderisch (1945/46)

von Lisa Schomburg | Seit 1939 gab es bereits alles auf Marken, seien es Tabakwaren, Fett, Milch (nur Magermilch), Brot und vieles mehr. Ich erinnere mich, dass ich in dem Tabak- und Konfitürengeschäft meiner Mutter mitgeholfen habe, je drei Zigaretten in Silberpapier einzuwickeln, die dann gegen Tabakmarken an die Kunden verkauft wurden.

Nach dem Krieg hat meine Mutter Roggen in einer Pfanne gebräunt, um davon „Kaffee“ zu kochen.

Es gab auch nichts mehr zu heizen. Die Wälder, in diesem Fall das Waldgebiet Haake, sahen sehr aufgeräumt aus. Dort lag nicht das kleinste Zweiglein mehr auf dem Waldboden.

Mein Vater arbeitete als Ladeschaffner am Güterbahnhof Wilhelmsburg. Er wusste, wann ein Zug mit Briketts dort rangiert wurde und wo der Zug auf welchem Gleis halten musste.

Meine Mutter und ich nahmen während der Nacht einige Taschen und krochen durch den Zaun, in den mein Vater ein Loch geschnitten hatte. Mein Vater kletterte auf einen der Waggons und warf Briketts herunter, die meine Mutter und ich aufsammelten und in unseren Taschen schnell verstauten. Das geschah unter größter Aufmerksamkeit und Vorsicht, denn die Bahnpolizisten patrouillierten entlang des Zuges, um eventuelle Kohlenklauer zu stellen. Danach krochen wir drei wieder durch den Zaun und liefen so schnell als möglich mit unserem Brikettschatz nach Hause. 1946/47 war ein sehr kalter Winter, in der Kirchdorfer Siedlung auf Wilhelmsburg sind einige Menschen erfroren.

Ich war am Ende des Krieges 15 Jahre alt und natürlich im Wachstum. Meine Kleidung wurde zu kurz und zu eng. Meine Mutter zerschnitt einige ihrer Kleidungsstücke und versuchte damit, meine Kleidung zu verlängern. Es wurden zusammengestückelte, aber tragbare, Röcke oder Kleider. Not macht erfinderisch!

1946 kam ich zur Handelsschule nach Harburg. Mein Vater hätte es lieber gesehen, wenn ich in einer Nahrungsmittelfabrik arbeiten würde, um Mehl oder Zucker „abzustauben“. Ich war damals sehr enttäuscht, dass ich eine Fabrikarbeiterin werden sollte, obwohl ich ihn verstehen konnte. Meine Mutter hatte sich aber durchgesetzt und ich durfte die Staatliche Handelsschule in Harburg besuchen.

Mein damaliges Schulbrot bestand manchmal aus einer Scheibe Steckrüben! Ich musste mit dem Zug, der vom Hauptbahnhof kam, von Wilhelmsburg nach Harburg fahren. Der Zug war überfüllt. Fahrgäste saßen teilweise zwischen den Waggons auf den Puffern, andere standen draußen auf dem Trittbrett und hielten sich an der Einstiegsstange fest. So auch ich. Einmal hatte ich Glück und konnte mich in ein Abteil hineinzwängen. Ich hatte wohl noch nichts gegessen und sackte zusammen. Einer der Fahrgäste steckte mir ein Stück Zucker in den Mund (woher er das wohl hatte?). Dadurch kam ich wieder zu mir. Mager war ich, wie viele andere auch.

Meine Schwester war noch ein Kleinstkind, sie ist 1944 geboren. Sie brauchte Milch. Die Milch im Milchgeschäft sah bläulich aus, der Rahm war abgeschöpft worden. Meine Mutter schickte mich mit einer Milchkanne zu einem benachbarten Bauern. In dessen Stall standen Kühe, die natürlich gemolken werden mussten. Der Bauer füllte unsere Milchkanne mit guter Milch und wir waren dankbar. Dies war ein Schatz!

Da unser bäuerliches Haus mit dem Laden durch Bomben zerstört war, wollten meine Eltern aus den noch brauchbaren Mauersteinen ein Behelfsheim bauen, etwa 100 Meter weiter die Straße entlang zu unserem Garten. Während mein Vater seiner Arbeit auf dem Güterbahnhof nachging, saß meine Mutter auf dem Trümmerhaufen und putzte von jedem Mauerstein den überflüssigen Zement ab, lud die fertigen Steine in einen Handwagen und zog diesen zum Gartengrundstück, und das mehrmals, tagelang. Währenddessen fuhr ich meine winzige Schwester in einem Einheitskinderwagen, der uns zugewiesen wurde, spazieren und versorgte unser Baby, so gut ich konnte.

Für den Bau brauchten meine Eltern aber Materialien wie Zement, Rohrleitungen etc., die es jedoch nicht gab. Sie brauchten etwas zum Tauschen. Dafür hielt mein Vater heimlich ein Schwein in seinem Stall auf dem Gartengrundstück. Dies war strengstens verboten. Niemand durfte davon erfahren. (Warum nur??) Gefüttert wurde das Schwein mit den Kartoffeln und Rüben aus unserem Garten. Von der Wurst und dem Speck des später geschlachteten Schweins konnten meine Eltern die notwendigen Baumaterialien eintauschen. Dies natürlich auch unter größter Verschwiegenheit. Einige Leute wurden mit dem Fleisch bestochen. Außerdem hatten wir auch mal wieder etwas für unsere Ernährung.

Wir hatten den Krieg verloren und brauchten uns nicht mehr vor Bombenangriffen zu fürchten. Die Tommies – wie wir unsere Feinde nannten – wurden unsere Freunde. Aber – warum ging es uns dann so schlecht?! Warum mussten wir auf die lebenswichtigsten Mittel verzichten?! Warum gab es noch nichts – auch nicht das Notwendigste – zu kaufen?!

Es sollte noch einige Jahre dauern, bis sich alles wieder normalisierte.

Autorin: Lisa Schomburg