Äpfelklau (1946)

von Manfred Hüllen | Juli 1946. Im ersten Sommer nach dem Zweiten Weltkrieg war in den meisten Familien der Hunger täglich zu Gast. Auch wir Kinder – mein Vetter Horst war 6, ich 7 Jahre alt – überlegten und hielten Ausschau, wo und wie wir etwas Essbares ergattern konnten. Wie junge Hunde durchstreiften wir die Gegend – nicht ahnend, dass wir es heute noch mit einem ausgewachsenen Rottweiler zu tun bekommen sollten.

Aber zunächst erregten leckere Äpfel unsere Aufmerksamkeit. Sie hingen an den Bäumen auf einer umzäunten Obstwiese und warteten offenbar nur darauf, von uns gepflückt zu werden! Der Zaun war schnell überwunden, und ebenso schnell war ich auf einen der Bäume geklettert und begann, meinem Vetter die reifen Äpfel zuzuwerfen.

Plötzlich rief eine laute Männerstimme: „Was macht ihr da?“ Es war der Bauer, dem das Land gehörte. Er eilte auf uns zu und hatte an einer langen Leine seinen Hund dabei. Vor Hunden hatte ich Angst, besonders vor großen Hunden, und dieser war riesig: ein Rottweiler!

Was tun? Runterspringen und weglaufen? Dazu reichte die Zeit nicht mehr – nur mein Vetter Horst war flink zurück über den Zaun und sah sich aus sicherer Entfernung an, was da kommen würde. Der Bauer kam näher und rief mir zu: „Komm da jetzt runter!“, doch meine Angst und mein Verstand sagten mir, es sei besser, oben zu bleiben.

Da band der Bauer den Hund am Baum fest und ging zurück in Richtung Bauernhof. „Dann rufe ich jetzt die Polizei!“, hörte ich ihn sagen. Der Hund umrundete den Baum und ich sah, dass dabei die Hundeleine etwas kürzer wurde. „Komm schnell!“, rief ich Horst zu. „Lauf immer im Kreis um den Baum, dann wird die Leine noch kürzer!“ Das tat er – und zwar so lange, bis der Hund dicht am Baum stand.

An einem starken Ast hangelte ich mich so weit vom Baumstamm weg, dass der Hund mich beim Runterspringen nicht mehr erreichte. Es klappte! Gleich noch ein paar Äpfel in die Taschen, und dann liefen wir zwei weg so schnell wir konnten. Wir hörten noch das laute Schimpfen des Bauern, aber wir waren in Sicherheit, er konnte uns nichts mehr anhaben.

Zu Hause angekommen, wurden wir von unseren Müttern für die mitgebrachten Äpfel sehr gelobt. Vom Bauern und seinem Hund erzählten wir kein Wort.

Autor: Manfred Hüllen