Abschied von meinen Helden (1945)

von Ingeborg Schreib-Wywiorski | Berlin, Sommer 1945. Allmählich kehrte der Alltag zurück.

Angesichts der vielen persönlichen Erfahrungen mit unseren Besatzern, blieb in der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch unsere Berührung mit ihnen distanziert. Sie fuhren anfangs immer zu viert in offenen Jeeps durch die Straßen: ein Amerikaner, ein Russe, ein Franzose und ein Engländer, und jegliche Fraternisation wurde kritisch im Keim erstickt.

Von meiner Mutter lernte ich, dass ein anständiges Mädchen sich auf keine wie auch immer gearteten Berührungen mit den Fremden einzulassen hatte. In diese Verlegenheit konnte ich auch nicht kommen, denn der jahrelange Drill und das Bewusstsein, zu einem auserwählten Volk zu gehören, steckten immer noch in mir, der Zehnjährigen, drin. Noch immer waren meine Helden groß und blond wie mein Idol Siegfried, aus der Nibelungensage. Zwar waren wir besiegt, aber das war Siegfried letztendlich auch. Ein Held blieb er trotzdem. Nur die Verehrung für den großen Führer, der Glaube an seine Allwissenheit und Allmacht, die waren angesichts des Chaos und Elends in den Trümmerwüsten auf eine harte Probe gestellt.

Als ich dann die heimkehrenden „Helden“ so zerrissen, kaputt und kümmerlich mit meiner Mutter an den Bahnsteigen in Empfang nehmen musste, weil sie dort hoffte, etwas von ihrem Mann und ihrem Bruder in Erfahrung zu bringen, da begannen doch Zweifel in mir aufzusteigen.

Mein Stolz, ein deutsches „Mädel“ zu sein, fiel restlos in sich zusammen, als ich in der Oberschule, die ich seit dem Herbst 1945 besuchte, von meinen aus der Emigration zurückgekehrten Lehrern lernte, was Nationalsozialisten, auf die wir doch so stolz waren, anderen Völkern angetan hatten. Wir Mädchen erfuhren zum ersten Mal, dass ein Konzentrationslager kein Umerziehungslager für Andersgläubige war, die sich nicht unserem Führer unterordnen wollten, so wie ich das in der Schule gelernt hatte, sondern dass es dort um grausamste Vernichtung Andersgläubiger und Andersartiger ging.

Ich lernte, dass jeder mitschuldig sei an dieser Vernichtung vor allem der Juden, aber auch der Russen auf den Eroberungsfeldzügen. Ich lernte von unmenschlichen Foltern, die Deutsche anderen angetan hatten.

Ich lernte, dass nie wieder ein Deutscher das Recht habe, sich an einem Krieg aktiv zu beteiligen. Sondern die einzige Möglichkeit für uns darin bestand, uns überrollen zu lassen und dann aus dem Untergrund heraus zu wirken.

Ich lernte, dass es die schlimmste Schmach sei, nach einer Verhaftung seine Kameraden zu verraten. Helden waren diejenigen, die durchhalten konnten.

Gleichzeitig predigte mir meine Mutter, dass ich mich bloß nie einer politischen Partei anschließen sollte. Ich solle mir bloß meinen Vater anschauen, der in den zwanziger Jahren NSDAP-Mitglied geworden war, weil er die ständigen Kämpfe und Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten und Kommunisten in Berlin leid war. Nun aber, 1947, zurück aus der französischen Gefangenschaft, hatte er, der für Ullstein in den 30er Jahren als Illustrator gearbeitet hatte, Berufsverbot und musste stattdessen Steineklopfen für 5 Mark am Tag.

Ich musste ihm das Essen im Henkeltopf bringen, und wenn ich ihn da so ausgemergelt sitzen sah, schwand wieder eine Vorstellung vom deutschen Mann, meinem Helden und Sieger. „Warum hast du da mitgemacht?“, fragte ich ihn. „Weil ich jung und dumm war“, antwortete er, „einmal im Leben muss ein Mensch einen solchen Irrtum begehen dürfen.“ „Durfte man das?“, fragte ich ihn. “Tja, mit dem Wissen von heute würde ich nicht wieder darauf hereinfallen“.

Wie gerne hätte ich einen Vater gehabt, der als Widerstandskämpfer gekämpft hatte, wie es meine Lehrer predigten. Aber das sagte ich ihm nicht.

Autorin: Ingeborg Schreib-Wywiorski