Das Trost-Brot (1940-43)

von Claus Günther | Ganz sicher habe ich gut geschlafen in den ersten Kriegsjahren. Wir wohnten damals im 2. Stock, und mein Vater, zu der Zeit noch nicht eingezogen, nahm mich manchmal bei Alarm mitsamt der Bettdecke hoch und brachte mich in den Keller, wo ich weiterschlief.

Wachte ich aber dort einmal auf, so reichte meine Mutter mir Knäckebrot, eine Scheibe nach der anderen. Es war eine Art Trost-Brot, denn die Erwachsenen flüsterten zumeist oder dösten vor sich hin. Etwas Langweiligeres gab es ja wohl kaum!

Nach der Entwarnung wurde ich vom Vater wieder hochgetragen. Häufig musste ich am nächsten Tag später zur Schule, je nachdem, wie lange der Alarm gedauert hatte. Dafür gab es feste Regeln.

Zum Glück ist uns damals noch nichts passiert. Einmal, 1943, hatte ich Ferien und durfte zu meiner geliebten Großmutter nach Wilstorf, das war – auf Rollschuhen – etwa zwanzig Minuten von unserer Harburger Wohnung entfernt. Meine Mutter hatte ihr aber eingeschärft, bei Alarm auf jeden Fall in den Keller zu gehen – mit mir zusammen natürlich. Normalerweise blieb Oma nämlich im Bett; sie war fatalistisch eingestellt, schließlich hatte sie ihr Leben gelebt.

Und so fand ich mich denn eines Nachts mit ihr und ihrem Untermieter, nachdem die Sirenen uns alarmiert hatten, in Omas Keller wieder. Der Untermieter, ein älterer Arbeiter, der auf der ‚Galalith‘ tätig war und durch jahrelanges Arbeiten an lauten Maschinen das Gehör eingebüßt hatte, galt als taub, und er hatte auch das Sprechen fast verlernt.

In dieser Nacht aber geschah etwas, was wir bislang noch nicht erlebt hatten: Mit einem gewaltigen Krach schlug irgendwo in der Nähe eine Bombe ein – ich hatte das Gefühl, das Haus hob ab. Oder bildete ich mir das ein? Der taube Untermieter aber fragte: „Fru Vumu (Frau Vollmar) – bumm?“ Angst kroch in mir hoch, gefolgt von einem Gefühl der Ohnmacht: Man konnte nichts tun, nur warten und hoffen, nicht getroffen zu werden.

Dennoch frage ich mich bis heute: Habe ich, haben wir Kinder damals die Lebensgefahr erkannt, in der wir uns häufig befanden, haben wir überhaupt einschätzen können, dass uns womöglich der Tod bevorstand, oder haben wir das überspielt, das Grauenhafte gar nicht an uns herangelassen oder es sogar verdrängt?

Autor: Claus Günther