Brief zum Angriff auf die Ukraine (heute)

von Wilhelm Simonsohn | Der 24. Februar 2022 hat mich mit einer Nachricht überrascht, die ich wie einen „Blitz aus heiterem Himmel“ empfand. Im Morgengrauen dieses Tages sind russische Truppen auf Befehl des Präsidenten Wladimir Putin in das Staatsgebiet der Ukraine einmarschiert.

Ich bin mit meinen 102 Jahren ein „Veteran“ des 2. Weltkrieges (ab Herbst 1943 als Pilot in der Nachtjagd). Ich habe das Elend eines solchen Krieges also aus der „Vogelperspektive“ erlebt. Unter den Trümmern der zerbombten deutschen Städte lagen rund 600.000 tote Menschen – vorwiegend Ältere, Frauen und Kinder.

Als dieser Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende war, empfand ich dieses Ende als meinen zweiten Geburtstag und ich war froh darüber, dass die politischen Umstände der Nachkriegszeit im Ergebnis zu einer Europäischen Union führten und wir Deutsche vor diesem Hintergrund den historisch einmaligen Umstand genießen dürfen, seit mehr als 75 Jahren mit unseren neun unmittelbaren Nachbarn in Frieden zu leben.

Ich nahm diesen Umstand als alter Mann von 85 Jahren zur Aufgabe – eingebettet in die Zeitzeugenbörse Hamburg – in vielen Schulbesuchen den jungen Menschen meine Lebenserfahrung zu übermitteln und die Erkenntnis, wie wertvoll es ist, unter demokratischen Verhältnissen in Frieden zu leben.

Noch heute spüre ich gelegentlich bei mir ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, dass wir Deutschen 1941 die Sowjetunion überfallen haben als einen Akt des 2. Weltkrieges mit etwa 50 Millionen toten Menschen, von denen etwa die Hälfte die von uns überfallenen Russen waren. Obwohl ich als Soldat russischen Boden nie betreten habe, kann ich es nicht verhindern, dass ich mich an diesem Drama mitschuldig fühle.

Dieses Gefühl hat bei mir auf der anderen Seite eine gewisse Affinität ausgelöst, die ich untermauern konnte dadurch, dass ich mit meiner Frau in einem VW-Bus Teile der Sowjetunion bereist habe. Dazu gehörte also auch das Lesen russischer Literatur, vermittelt durch Hörbücher unserer Öffentlichen Bücherhallen in Hamburg, die mich zu einem Freund der großartigen russischen Literatur gemacht haben, von Tolstoi, Dostojewski bis Tschechov und Michail Scholochow. Dazu die Musik von Tschaikowsky.

In diesem Zusammenhang hat mich u.a. besonders beeindruckt, dass die Russen gestattet haben, dass der Dom in Kaliningrad (Königsberg) wieder hergerichtet werden durfte, dass vor dem wieder aufgebauten Stadttheater ein Schiller-Denkmal steht und dass last but not least die Universität in Kaliningrad seit 2015 „Immanuel Kant“-Universität heißt (Kant: „Der Frieden ist das Meisterwerk der Vernunft“).

Umso enttäuschender ist für mich, dass ein Diktator wie Wladimir (Ras-) Putin alle diese Wertvorstellungen über Bord geworfen hat, indem er mit seinen Truppen grenzüberschreitend in die Ukraine eingefallen ist, etwa nach dem Motto des deutschen Generals von Clausewitz, der mal geschrieben haben soll: „Der Krieg ist nichts anderes als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“

Eine positive Seite für mich ist es, erleben zu dürfen, dass zigtausende junge Menschen unsere Straßen bevölkert haben, um für den Frieden zu werben.

Meine Hoffnung ist es, dass diese junge, nachwachsende Generation in eine friedliche Welt hineinwächst.

Das wünscht der Jugend ein 6-facher Urgroßvater.

Autor: Wilhelm Simonsohn