Drei Zeiten – Eine Berufung (2021)

von Claus Günther | Alte Menschen, so sagt man oft, leben in der Vergangenheit. Das trifft zu, sie haben ja viel erlebt. Die Frage ist: Reden sie darüber, geben sie ihre Erfahrungen weiter?

Wir Zeitzeugen wollen das, wir fühlen uns berufen und sehen es als unsere Aufgabe an, über NS-Diktatur, Krieg und Entbehrungen aus eigenem Erleben zu sprechen oder auch, seitens der Jüngeren in unserer Gruppe, vor rechten Parolen und populistischen Tendenzen zu warnen. So holen wir die Vergangenheit in die Gegenwart und versuchen, Weichen zu stellen für eine friedvolle Zukunft im Sinne unserer Demokratie.

Manchmal kommt es dabei zu so unerwarteten Begegnungen wie jener mit Marione Ingram und ihrem Mann Daniel an „meiner“ ehemaligen Schule, dem Friedrich-Ebert-Gymnasium (umgangssprachlich „Ebert“) in Harburg im August 2021.

Marione, Jahrgang 1935, in Hamburg geboren als Kind einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters, hat, gemeinsam mit ihrer Mutter, als Achtjährige das Inferno des Bombardements 1943 (die so genannte Operation Gomorrha) überlebt – nicht obwohl, sondern weil sie Juden waren: Sie wurden erkannt an ihrem gelben Judenstern!

Und Juden war der Zutritt zu Luftschutzbunkern und -kellern verboten. Diese Schutzräume aber wurden oftmals zu Todesfallen. Mutter und Kind überlebten damals in einem Bombenkrater, der Feuersturm fegte über sie hinweg.

Nach dem Krieg hat Marione lange in Italien gelebt, heute lebt sie mit ihrem Mann in den USA. Sie engagiert sich mutig gegen Rechts, trotz vielerlei Anfeindungen.

Und wenn sie in Deutschland ist, duzt sie jeden und jede, ihr Mann Daniel (mein Jahrgang, 1931) ebenso. Mir gefiel das, doch seitens der Lehrerschaft des FEG waren wir beim „Sie“ geblieben. Inzwischen hat sich auch das zum „Du“ gewandelt, dank Jan und Stefanie.

Stefanie mailte mir kürzlich sinngemäß, „es wäre mir eine Ehre, Dich an unserer Schule begrüßen zu dürfen“ – gemeint war, sobald alles wieder „normal“ ist. Und mir wäre es eine Ehre, abermals als Zeitzeuge an „meine“ Schule eingeladen zu werden, kann ich dazu nur sagen.

Manchmal geschehen ganz einfach Wunder.

Vor mehr als 70 Jahren hätte ich nicht im Traum daran denken können, im hohen Alter an meine einstige Oberschule für Jungen – das heutige „Ebert“ – als Zeitzeuge eingeladen zu werden, dort eine Überlebende des Holocaust kennen zu lernen und mit ihr, ihrem Mann und nun auch mit zweien aus der jungen Lehrerschaft auf du und du zu sein.

Vor Lehrern, vor meinen damaligen Lehrern, hatte ich (zu viel?) Respekt – ein „Du“ wäre unmöglich gewesen! Wir Schüler waren schon froh, ab 10. Klasse gesiezt und nicht mehr geohrfeigt zu werden. Für solche aktuellen Begegnungen bin ich zutiefst dankbar und freue mich meines Lebens.

Autor: Claus Günther