Postillon zwischen den Zonen (1945)

von Wilhelm Simonsohn | Ich hatte das Glück, schon im Herbst 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen worden zu sein. Meine beruflichen Perspektiven waren durch die Umstände des Kriegs gleich null. Das Einzige, was ich vorweisen konnte, die Fliegerei, war in dieser Zeit aus deutscher Sicht nicht gefragt.

Nun mussten doch die ganzen Lebensumstände finanziert werden. Meine Mutter mit ihrer kleinen Witwenrente hatte Vollmacht für mein Sparbuch, auf das sich knapp 2.000 Reichsmark angesammelt hatten. Meine Bratsche, auf der ich mich in jungen Jahren vergeblich abgemüht hatte, Paganini und Menuhin Konkurrenz zu machen, „versilberte“ ich für 5.000 Reichsmark an einen seriösen Instrumentenhändler am Gänsemarkt. Im Übrigen war in einer Nebenstraße von der Reeperbahn, in der Talstraße, die „Hochburg“ für die kleinen Schwarzmarktgeschäfte.

Als die finanziellen Quellen erschöpft waren und berufliche Perspektiven immer noch nicht in Sicht waren (die Ingenieurschule war noch bis Anfang der 50er Jahre ein Trümmerhaufen), musste ich mich nach anderen Gelegenheiten umsehen, um uns „über Wasser zu halten“.

Vor dem Hintergrund meiner guten Ortskenntnisse im Raum Bad Harzburg – Ellrich – Wernigerode und der Tatsache, dass zwischen der Sowjetzone (SBZ) und der britischen Besatzungszone der gesamte Postverkehr zum Erliegen gekommen war, entdeckte ich eine Marktlücke.

Ich gab eine Annonce auf und diente mich an, als „Geschäftsreisender“ familiäre Kontakte zu den Familien in der SBZ herzustellen. Was passierte am Tage nach der Veröffentlichung dieser Annonce? Die Menschen standen Schlange von der Wohnungstür bis auf den Bürger-steig

Ich hatte offenbar keine „Marktlücke“, sondern ein „Marktscheunentor“ entdeckt. So fuhr ich dann verschiedene Male nach Berlin, passierte im Harz – alles nur nachts –.  schließlich war ich ja mal als Nachtjäger ausgebildet worden – die Grenze im Raume Ellrich, warf meinen Rucksack über die Oker, wo sie noch als Bach dahinplätscherte, sprang hinterher, ging zu Fuß nach Wernigerode runter, fuhr morgens nach Berlin, klapperte mit mehr oder weniger Erfolg die mir mitgegebenen Adressen ab, übernachtete in einer vorgefundenen dunklen Wartesaalecke und trat dann später im Schutze der Dunkelheit den entsprechenden Rückweg an. Auf diese Weise kassierte ich zwischen 3-5.000 Reichsmark pro Einsatz als „Erfolgshonorar“.

Bei meiner vierten „Exkursion“ bin ich in leichtsinniger Weise bei der Überquerung der Oker einem russischen Soldaten, der als Wachablösung unterwegs war, fast auf die Füße gesprungen. Sein „Stoj“ und das Durchladen seiner „Kalaschnikow“ ist mir heute noch gegenwärtig. Ich wurde von ihm in das nahegelegene Wachhäuschen, auf dem Dach ein rotleuchtender Stern, hingeführt und war Gottseidank dort kein Einzelgänger.

Die Russen wussten wahrscheinlich nicht wohin mit den vielen Grenzgängern (ganze Familienverbände waren dem Wachpersonal schon in die Hände gefallen). Ich bekam schnell heraus, dass die Russen die Leute nach einem kurzen, harschen Verhör wieder dahin zurückschickten, von wo sie kamen und nicht etwa dahin, wo sie hinwollten.

Da ich ja nach Berlin wollte, sagte ich, ich wollte nach Hamburg, worauf ich prompt nach Berlin „zurückgeschickt“ wurde. Das hatte den Vorteil, dass ich diesmal in voller Lebensgröße auf der Straße nach Wernigerode hinunter gehen konnte, da ich nunmehr legal unterwegs war.

Auf diese Weise relativ viel Geld zu verdienen, konnte natürlich nicht von Dauer sein. Ich nahm daher später die Gelegenheit wahr, mich an der Volkszählung für die britische Besatzungszone zu beteiligen. Damit hatte ich den Fuß in der Tür zu einem sogenannten bürgerlichen Leben, das dann in relativ normalen Bahnen verlief, zumindest gemessen an dem, was mir die Lebensumstände bis dahin geboten hatten.

Autor: Wilhelm Simonsohn