Studentenleben (1964)

von Carsten Stern | Der Wecker klingelt. Ich stelle ihn aus und das Transistorradio ein, Wettermeldungen aus Frankfurt. Liegt ja nicht so weit von Marburg weg. „Die Temperatur in Frankfurt beträgt um 6 Uhr minus 12°.“

Da habe ich mir von meinem Schülertaschengeld für 100 Mark ein Transistor-Kofferradio gekauft – und nun diese Meldung. Ich drehe mich um. Die erste Vorlesung kann warten. Oder doch nicht? Die Kälte geht ja doch nicht weg aus dem Zimmer, wenn ich im Bett bleibe.

Dieser Januar und Februar 1963! Es ist wochenlang kalt und ich habe nichts zum Heizen. Wenig Geld, und es gibt keine Kohlen! Die Flüsse sind zugefroren und die Schuten kommen gar nicht aus dem Ruhrgebiet nach Marburg. Gestern Abend habe ich mit zwei Briketts eingeheizt, damit wenigstens ein Anflug von Wärme vor dem Kanonenofen in meiner Studentenbude ist.

Mein Zimmer ist praktisch gar nicht geheizt, es geht nach hinten zum Hang hinaus, wohin ohnehin kaum Tageslicht kommt. Dafür ist das Zimmer mit 65,- DM noch vergleichsweise billig. „Auf Bude“: das ist das Normale damals in den 60ern. Zur Untermiete. Es ist vergleichsweise preiswert. Viele Vermieter brauchen das Geld. In Hamburg wohnte ich dreimal bei Kriegerwitwen. Hier in Marburg, einer typischen der 13 Uni-Städte Deutschlands, wohnen fast alle auf Bude. Wenigstens habe ich Badezimmerbenutzung – und nicht, wie ich das bei einer Wohnungsbesichtigung in der Fachwerkstatt gesehen hatte, Waschtisch mit Kanne und schiefem Fußboden, das Bett festgebunden an einem Haken, damit es nicht durchs Zimmer rutscht!

Ich stehe auf, gehe ins Badezimmer der Familie Vermieter Schmidt. Wenigstens der Gasofen gibt ein wenig warmes Wasser. Nicht zuviel, die Familie braucht auch noch Wärme. Ein, zwei Scheiben Brot geschmiert. Und dann mache ich mich auf den Fußweg zur Uni. 20 Minuten Straße, immer an der Lahn entlang. Es ist kalt. Die Straßen sind vereist, Schnee liegt. Die Lahn ist zugefroren. Am Nachmittag kann ich auf dem Eis nach Hause gehen, direkt von der neuen Mensa aus. Ach so, und meine Wäsche muss ich abholen, und dann muss ich in der Bahnhofstraße bei dem Kohlenhändler vorbei: ob er heute Kohlen hat, wenigsten zwei Briketts? Man kauft sie in diesem Winter stückweise, wenn man sie kaufen kann!

Am Mittag in die Mensa. Es war das – fast – einzige neue Gebäude der altehrwürdigen Marburger Unigebäude. Funktionell, gutes Essen, billig. Und, das Wichtigste in diesen Wochen, es war geheizt. Mit meiner Clique ging ich täglich essen. Wir machten etliches zusammen. Ich war trotzdem etwas draußen vor – denn ich wohnte als einziger nicht in der Innenstadt, sondern weiter draußen.

Einer von uns hatte Kohlen, Briketts und Eierkohlen. Ich erinnere mich, dass wir an diesem Tage zu ihm gingen und jeder 2 Briketts bekam, fortgetragen in einem Beutel. Ein kostbares Gut.

Er war übrigens der Kommilitone mit den meisten Anziehsachen. Er wohnte mit 2 anderen zusammen – das gab es auch, aber war doch eher selten. Einmal, als er in Urlaub gefahren war, hatte einer seiner Mitbewohner erstaunt festgestellt: „Mensch, bei dem hängt ja der Schrank noch voll. Ich denke, der ist verreist!“

Bei mir war es ja auch so: wenn ich wegfuhr, in Ferien, dann war der Kleiderschrank leer. Meine Wäsche reichte gerade so weit, dass  ich sie – alle 3 bis 4 Wochen – zum Waschen in die Wäscherei bringen konnte und sie dann in zwei Tagen fertig war. Das war kein Luxus. Denn wo sollte ich sonst waschen? Die Küche meiner Vermieter konnte ich ja nicht mitbenutzen und eine Waschmaschine gab es nicht. Und Waschsalons? Eine Erfindung der Neuzeit.

Also, wir wärmten uns erst mal in seiner Bude auf. Dann ging es in die Seminare. Sie waren die einzigen Gebäude für uns, die noch leicht geheizt waren. Nicht, dass wir viel arbeiten oder uns auf Klausuren vorbereiten wollten: Wir mussten notgedrungen den Stoff der Vorlesungen nacharbeiten. Um warm zu bleiben.

Dann aber ging es noch einmal aufs Eis. An der Mensa, an der Lahnbrücke. Rutschbahnen, Glitschen, Schlindern, je nachdem. High Noon auf dem Eis. Dafür war der Winter wirklich gut. Reger Betrieb. Es wimmelte.

Am späten Nachmittag auf meinem Heimweg – nachmittags waren es eher 30 als 20 Minuten Fußweg – einen Bus gab es wohl auch, aber dafür hatte ich kein Geld – noch bei der Wäscherei vorbei, dann zur Post – war der Wechsel meines Vaters da? Das Geld wurde noch bar überwiesen über die Post, wer hatte schon ein Bankkonto? Doch nur reiche Geschäftsleute.

An der Bahnhofstraße zur Kohlenhandlung. Es tat ihnen leid, heute hatten sie auch keine Kohlen, aber wenn ich morgen, oder doch besser übermorgen….? Aber eines sei gleich gesagt: die Zuteilung ist rationiert. Es gab nur eine zugeteilte Menge an Briketts, und ob Eierkohle diesmal dabei sei? Briketts übrigens stückweise, nicht nach Gewicht! Sie wüssten ja selbst nicht, wann sie überhaupt Kohlen bekämen. Die Züge verkehrten nur unregelmäßig und die Flussschifffahrt, die sei ja schon lange eingestellt. Also nur mit den zwei „geliehenen“ Briketts nach Hause in meine Bude. Feuer machte ich übrigens erst kurz vorm Schlafengehen an, damit es nicht gar zu kalt würde, wenn ich unter die Decke kroch.

Ein Tag im Leben des Studenten im kalten Winter 1962/63 in Marburg an der Lahn. Keine Notzeit. Doch kalt. Sehr kalt.

Autor: Carsten Stern

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