Meine Stunde Null (1945)

von Richard Hensel | Wo soll ich anfangen? Mit dem 27. März 1945? Ich war elf Jahre alt.

Es war der Tag, an dem die Rote Armee Danzig besetzte. Der Tag, an dem zwar die Waffen schwiegen, aber an dem die Sieger anfingen, ihre Wut an der Zivilbevölkerung auszulassen. Besonders an den Frauen und Mädchen. Auch alle Männer wurden verhaftet und in Lagern interniert.

Oder soll ich den 9. Mai 1945 als „meine Stunde Null“ bezeichnen? Am Abend dieses Tages gab es ein Feuer- werk aus Leuchtspurmunition, und die Soldaten riefen „Woyna kaputt,  Hitler kaputt“.

Ich weiß es nicht. Hatten wir doch in den vergangenen 6 Wochen meine beiden jüngsten Geschwister eigenhändig beerdigt. Meine Mutter hatte versucht, sich das Leben nach einer Vergewaltigung zu nehmen. Von meinem Vater wussten wir nichts. Was wir essen sollten, wussten wir auch nicht. Wir, damit meine ich meinen jüngeren Bruder und mich. Wir gingen durch die leeren Häuser und Keller und suchten nach etwas Essbaren für uns fünf, denn da waren noch 2 Geschwister im Alter von 5 und 7 Jahren.

Ich glaube, für mich persönlich ist die Stunde Null erst am 1.8.1948 gekommen. Denn von diesem Tag an lebte ich wieder in einer Stadt. Wenn sie auch klein war, aber besser als auf dem Lande. Ich bin nun mal ein Stadtmensch, und außerdem war ich wieder bei meiner Familie und konnte meinen Wunschberuf erlernen.

Autor: Richard Hensel

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