Über das Glück, etwas vorzuhaben (heute)

von Claus Günther | Vor etwa drei Jahren haben meine Frau und ich uns mehrere Altenheime in der Nähe angesehen, nur mal so, um uns zu orientieren. Manche Heime hatten unmittelbar hinter dem Eingang eine kleine Nische, in der einige Bewohner saßen: alle stumm, manche schläfrig. Niemand von ihnen blickte hoch. Es war, als seien sie dort geparkt bis in alle Ewigkeit. Immerhin waren sie gesellig, wenn man das so nennen darf. Vielleicht warteten sie auf Kaffee oder Abendbrot.

Ein friedliches Bild, doch zugleich erschreckend. Wie ist das, wenn man nichts mehr vorhat und womöglich noch klar im Kopf ist? Wie wird man so teilnahmslos? Ich gestehe, ich bin träge geworden durch Corona, träger als früher.

Nimm di nix vör, denn sleit di nix fehl? Och nö, das nun doch nicht. Im Grunde habe ich immer was vor. Wenn ich nichts vorhätte, würde ich mir etwas überlegen. Manchmal denke ich allerdings, ob ich mich nur ablenken will mit all meinen Vorhaben, ob ich mir selbst etwas v o r m a c h e  (!), um nicht depressiv zu werden. Aber meistens habe ich etwas vor, das mir wirklich Spaß macht. Ich sehe es ohnehin als großes Glück an, gesundheitlich ziemlich stabil zu sein und Freude am Leben zu haben, Tag für Tag. Wer weiß, wie es den Generationen ergeht, die nach uns kommen!

Corona hat uns gezeigt, wie zerbrechlich unsere Welt ist, wie instabil unsere scheinbare Sicherheit. Ob wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen und eine Umkehr schaffen mit Verzicht auf Standards, die wir Wohlstand nennen? Ich fürchte, wir Menschen sind dafür nicht reif genug. Dabei haben wir Kriegskinder doch zwangsläufig auf unendlich viel verzichten müssen! Einschränkungen, klar. Bis hin zum Hunger. Aber es gab irgendwann auch keine Schokolade mehr, keine Bananen und keine Ananas, um nur einige Genussmittel zu nennen, und plötzlich gab es nicht mal mehr Eis.

In Harburgs Zentrum, wo ich aufgewachsen bin, existierte damals die Eisdiele Galeazzi. Allein der Name klang ja schon nach Gelato, wie Eis auf Italienisch heißt. Das war unser Treffpunkt nach Schulschluss, und nach dem Krieg, als es kein Eis gab, tranken wir 15-Jährigen dort ein rotes Heißgetränk von dem es hieß, es enthalte Alkohol. Das war auch ein Glücksgefühl.

Manchmal aber tut es auch gut, nichts vorzuhaben und sich treiben zu lassen. Mit Buch, ohne Fernsehen. Es gibt ja doch nur Wiederholungen … Aber dann, am späten Abend, ruft meine Frau plötzlich: „MDR – Udo Lindenberg!“ Und da war sie: Udos große Bühnenshow zu seinem 70. Geburtstag, 2016 von ihm selbst inszeniert. Auch eine Wiederholung. Egal. Udo, der Panik-Rocker, der Entertainer. Udo, der Antiheld. Einfach genial.

Da war es wieder, das Gefühl des Glücks. Unverhofft.

Autor: Claus Günther