Mit „La Paloma“ an die Oberelbe (1946)

von Lisa Schomburg | 1946, als ich 16 Jahre alt war, kannte ich meinen späteren Mann schon und war sehr verliebt. Dadurch sah ich jeden Tag durch eine rosarote Brille und empfand die großen Probleme der Nachkriegszeit nicht so stark wie „normale“ Leute. Es war zur Gewohnheit geworden, hungrig zu sein und ständig nach etwas Essbarem Ausschau zu halten.

Heinz und ich hatten mit einigen anderen Jungen und Mädchen eine kleine Gruppe gebildet. Wir trafen uns in einem ausgebombten Lagerhaus in Hamburg-Rothenburgsort. Die oberen Geschosse waren zerstört, die Wände und die Decke über uns jedoch noch intakt. Von den Fenstern existierten noch die kleinen Verstrebungen und Reste von zerbrochenen Scheiben. Wir waren stolz, dass wir diesen Unterschlupf fanden. Dort diskutierten wir über diese Nachkriegszeit und wie wir am besten unsere Freizeit sinnvoll gestalten können.

In uns steckte noch immer der Drang nach Gemeinschaft und Kameradschaft aus der Zeit während des Krieges, wie wir es bei der Hitlerjugend kennengelernt hatten.

Um unserer Gruppe einen Namen zu geben, überlegten wir lange. Es musste irgendetwas mit Frieden zu tun haben. So entstand unsere kleine Organisation „La Paloma“, die (Friedens-) Taube. Bald planten wir einen gemeinsamen Urlaub mit Zelten an der Oberelbe. Für diese Reise sammelten wir alle möglichen brauchbaren Dinge wie Wehrmachtszelte mit eingeprägter Tarnung, Kochgeschirr und Wehrmachtsdecken. Diese Sachen waren gleich nach dem Krieg von den noch nicht abgezogenen deutschen Soldaten in Baracken gefunden und natürlich stibitzt worden.

Es gab sehr wenig zu essen und wir waren alle überaus schlank, ja dünn, aber voller Freiheits- und Tatendrang. Welch herrliches Gefühl, sich endlich frei bewegen zu können, ohne die ständige Angst vor Bombardierungen und das nervige, unheilverkündende Sirenengeheul.

Der alte Raddampfer „Hugo Basedow“ fuhr derzeit noch von Hamburg nach Lauenburg. Wir trafen uns an den Landungsbrücken mit unserem Gepäck aus Pappkartons und Wehrmachtsrucksäcken, um die die Wolldecken eingerollt gebunden wurden. Kochgeschirr und ein paar alte Aluminiumtöpfe wurden an den Rucksäcken befestigt, kleine Spaten (alles Kriegsnachlässe) steckten im Rucksackriemen. Der Raddampfer brachte uns gemächlich elbaufwärts bis nach Tesperhude. An dieser Stelle entlang des Stromes gab es schöne Buchten mit sauberem Sand und viel Gebüsch. Ideale Zeltplätze!

Die Jungen hoben mehrere Gruben aus, über die die Wehrmachtszelte quadratisch genau passten. Dann knöpften wir die Dreieckszeltbahnen doppelseitig zusammen und setzten die fertigen Zelte auf die Vertiefungen. Mit „Heringen“ (starken, großen Metallnägeln) befestigten wir die Zeltbahnen im Sand– und Grasboden.

Bei Bauern fragten wir nach Heu. Sie halfen uns aus, mehr oder weniger freundlich. Der eine Bauer verkaufte uns später manchmal frisch gemolkene Milch, eine Köstlichkeit!

Wir füllten die Erdvertiefungen mit dem Heu aus und legten unsere Decken darauf. Für unsere Begriffe war dies eine prima Liegestatt. Wir waren jung und abenteuerlustig und sehr hungrig.

„Unser“ Bauer konnte uns keine Kartoffeln verkaufen; augenzwinkernd verriet er uns jedoch, dass es auf der anderen Seite der Elbe Kartoffelfelder gäbe.

Wir besaßen ein kleines Schlauchboot (auch Soldaten-Nachlass). Da auf der Elbe Patrouillenboote der Polizei fuhren, von denen sie nicht entdeckt werden durften, wollten unsere Jungen das Schlauchboot spät abends über den Strom schieben, Köpfe unterhalb der Bootswände, und nebenherschwimmen. Durch die starke Strömung der Elbe trugen sie, wenn es ebbte, das Schlauchboot ein paar 100 Meter stromaufwärts. Erst dort wurde es zu Wasser gelassen und die Jungen schwammen für die Patrouillenboote unsichtbar nebenher, das Boot geradeaus über den Strom schiebend. Auf diese Weise landeten sie genau unserem Zeltplatz gegenüber. Wir Mädchen konnten sie nicht mehr erkennen, es dunkelte bereits.

Glücklich drüben angekommen, klopften sie bei einem Bauern ans Tor und fragten nach Kartoffeln und Milch. Milch konnte er ihnen nicht geben, denn: „Uns Keuh steiht drög“, war die Antwort. Nach Kartoffeln sollten sie dagegen auf einem bestimmten Feld buddeln, am besten jetzt, denn der Gendarm hätte gerade geheiratet, so dass er sowieso nicht aufpassen würde. Es war inzwischen stockdunkel geworden.

Wir Mädchen warteten ungeduldig und machten nach einer längeren Zeit Lichtzeichen mit einer Wehrmachtstaschenlampe, damit die Jungen auf ihrem Rückzug den Zeltplatz ausmachen konnten. Sie zogen das Boot auf der anderen Seite wieder einige hundert Meter stromaufwärts und schwammen neben dem gut beladenen Boot wieder zu uns.

Wir waren froh, als wir das Kartoffelboot an den Strand ziehen konnten, ohne dass der Transport entdeckt wurde! Am nächsten Tag gab es Bratkartoffeln in Margarine gebraten und frische Kuhmilch dazu. Für uns ein Festessen!

Eines Morgens regnete es stark, keiner mochte aus dem Zelt kriechen. wir hatten uns vorgenommen, heute Erbsensuppe zu kochen auf dem offenen Feuer. Erbsen haben wir von zu Hause mitgebracht, Speck und Suppenkraut gab uns der Bauer gegen ein kleines Entgelt. Aber wir sollten wir bei diesem Regen das Feuer halten?

Heinz wusste Rat. Er knöpfte eine Zeltbahn ab und stellte sich vor das Feuer, die ausgebreitete Zeltbahn schützend gegen den Regen haltend. Das war sehr anstrengend, seine Arme wurden bald lahm und er dabei klitschnass. Die Suppe in dem Topf, der an drei zusammengebundenen Stöcken über dem Feuer hing, köchelte jedoch auf diese Weise langsam vor sich hin. „Salz muss in die Suppe“, dachte ich und tat eine Handvoll hinein. Plötzlich öffnete sich von dem anderen Zelt eine Bahn und Sigrid kroch heraus. Ehe sich Heinz versah, wurde eine zweite Handvoll Salz in die Suppe geschüttet. Als das dritte Zelt geöffnet wurde und Annemie mit einer Handvoll Salz herausgekrochen kam, rief er laut: „Nun ist es aber genug! Viele Köche verderben den Brei!“ Die versalzene Suppe schmeckte uns trotzdem.

Wir waren 12 junge Leute und unternahmen Wanderungen. Abends wurde am Lagerfeuer Schifferklavier gespielt und gesungen. Ganz besonders gefiel mir das Lied „Hohe Tannen weisen die Sterne“, welches wir zweistimmig sangen. Jeder Tag war wunderbar für uns, sogar bei Regen.

Autorin: Lisa Schomburg