Auszug eines Briefwechsels (1990)

bereitgestellt von Waltraud Pleß | Wir veröffentlichen hier den Brief einer DDR-Bürgerin, einer guten Bekannten von Waltraud Pleß. Die Schreiberin ist inzwischen verstorben. Der Brief beschreibt die Stimmungslage zwischen Verunsicherung und Optimismus im Februar 1990. Ein sehr authentisches Dokument. Die Redaktion

„Meine liebe Waltraud!

Auf den Tag genau – im Dezember 89 – ist dein ausführlicher Brief datiert, den ich nun beantworten möchte.

Was bewegt uns in den jetzigen Tagen mehr als die bevorstehenden Veränderungen? Auch ich bin sehr, sehr froh, dies alles miterleben zu können, sich frei äußern und Erleichterung zu verspüren. Darin vermischt ist natürlich auch eine große Besorgnis, kaum jemand weiß, wie lange er noch seinen Arbeitsplatz behält.

Vor derartigen, existenzbedrohenden Fragen standen wir noch nie, das ist eine neue Situation, mit der wir leben müssen. Das bringt depressive Stimmungen, weil das erste, in dieser Richtung verabschiedete Gesetz wenig berauschend ist. Max. 500,- M Unterstützung bei Arbeitslosigkeit.

Was, wann und wie wird die Währungsunion* verlaufen, wie verhält man sich vorbereitend dazu? Viele Menschen borgen sich Geld zusammen, zahlen ihre Baukredite ab, andere schaufeln ihr Geld auf alle möglichen Konten, die sie haben, weil davon gesprochen wird, nur ein geringer Teil wird 1:1 zu tauschen sein, der Rest wird entweder auf Eis gelegt oder ist abzuschreiben.

Unter Beachtung dieser möglichen Variante überlege ich, was meinem Auto passieren soll, denn es stellte bislang einen Wert dar. Anschaffungspreis 22 TM + 14TM Reparaturen und Erneuerungsaufwendungen. Wenn ich Glück habe, kann ich es jetzt noch gut verkaufen, etwa für 18TM (das waren die gängigen Preise) und was kommt danach? Entwertung des Geldes und kein Auto. Es ist schon eine verrückte Zeit, aber es kann nur schöner werden, das wirkliche Leben beginnt erst jetzt, denke ich.

Vor ein paar Tagen erzählte mir ein Nachbar, er ist Hausobmann, dass im Sommer die Stasi bei ihm war und sich nach uns erkundigte. Alleinstehend und jährliche Ungarn-Reisen, das war schon sehr verdächtig. Diese Schnüffelei hat hoffentlich ein Ende. Es wird behauptet, dass sich höhere Offiziere dieser „Gilde“ noch im Untergrund bewegen, mich überkommt ein Schauer, wenn ich nur daran denke.

[…]

Und mein Sohn studiert in einer Richtung, die er selbst wählen konnte. Nun sag selbst, da noch zu klagen wäre total aus der Luft gegriffen. Außerdem kann ich das, ich muss schon schreiben – Gemeckere – der Leute nicht mehr hören, es ist nicht gerecht.

Natürlich gibt es auch sehr, sehr viele Ungereimtheiten und offensichtliche Machenschaften, bei denen die Ex-DDRler über den Tisch gezogen wurden. Habe z.B. eine Mandantin, sie hat ihr Haus – eines der schönsten mitten in der Stadt – zurückerhalten, die total übers Ohr gehauen wurde. Der Kaufpreis beträgt lt. Vertrag 500 TDM, ihr wurde eingeredet, das Haus sei verwahrlost und in keinem guten Zustand. In Wirklichkeit ist es aber 2-3 Mio M wert, leider ist der Vertrag schon rechtswirksam geworden.

Pausenlos könnte ich dir darüber Geschichten erzählen, aber was soll‘s. In diese neue Welt des Kapitalismus müssen wir uns erst hineinleben, das wird dauern. Unsere jüngeren Leute werden es wohl ordentlicher packen.

Über dein Bild habe ich mich sehr gefreut, auch über den Umstand, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren werden. Es gibt so wenig Menschen und ich befürchte, die den ehem. DDR-Bürgern zuerkannte Eigenschaft der Solidarität, Selbstlosigkeit usw. geht auch langsam flöten. Das Thema Geld greift ein in alle Schichten.

Sogar die Rentner diskutieren wie die Weltmeister. Vielleicht liegt es auch an der großen Unzufriedenheit, die sich allgemein breitmacht. Man kann es schlichtweg als Enttäuschung bezeichnen. Enttäuschung gibt es m. E. aber immer nur dann, wenn die Vorstellungen zu hochgeschraubt werden. […]

Meine Freundin hat in der DDR ein recht privilegiertes Leben führen können – ohne „angepasst“ zu sein. Sie hat durch die Wende ihre Uni-Festanstellung verloren und ist von Wessis richtig reingelegt worden. Irgendwo taucht noch der Satz auf: Wenn das alles mir und anderen passieren musste für die Freiheit und mein Sohn studieren darf, was er möchte, dann ist es das wert.

* Die Währungsunion kam am 1.7.1990

bereitgestellt von Waltraud Pleß